Dritter Abschnitt. Die Ursachen der psychischen Krankheiten.
Erstes Kapitel. Wirkungsweisen der Ursachen.
§. 75.
Obwohl die Geisteskrankheiten in der Mehrzahl der Fälle aus einem Zusammenwirken mehrerer, zum Theil vieler ungünstiger Um- stände entstehen, so erscheinen doch gewöhnlich einige unter diesen Momenten so besonders wichtig und wirksam, dass man sie näher als die besondere Ursache bezeichnen muss, oder es kommen Fälle von Erkrankung vor, die man nur der Einwirkung eines einzigen un- günstigen Verhältnisses zuschreiben kann. Bei der Besprechung dieser näheren Ursachen haben wir theils gewisse äussere Schädlichkeiten, theils die widrigen Einflüsse gesundheitszerstörender Gewohnheiten, theils gewisse abnorme organische Zustände selbst zu würdigen, welche zunächst solche Erkrankungen des Gehirns einleiten können. Der Weg, auf dem sie wirken, ist ein doppelter: einmal durch eine, (statio- när werdende) nervöse Irritation des Gehirns, sodann durch Entwickelung von Hyperämieen in der Schädelhöhle. Nament- lich die letztere Entstehungsweise erscheint uns als eine ungemein wichtige, insoferne die pathologische Anatomie zeigt, dass Hyperämieen des Gehirns, namentlich der Gehirnrinde und der Pia, den allerge- wöhnlichsten Leichenbefund in den frischeren Fällen von Geistes- krankheit ausmachen, und als wir desshalb ohne allen Zweifel in diesen Hyperaemieen ausserordentlich oft den nächsten organischen Grund der psychischen Anomalieen zu erkennen haben.
Nicht so freilich, als ob jede Gehirnhyperämie bei jedem Menschen auch unmittelbar und nothwendig ein Irresein zur Folge haben müsste -- die clinische Beobachtung zeigt uns oft genug habituelle Kopfcongestionen ohne diesen Sym- ptomencomplex; sondern diess ist unsere, aus den Thatsachen sich ergebende Ansicht, dass die Ausbildung einer Gehirnhyperämie da diese Symptome hervor- bringt, wo sie in einem schon disponirten, sei es durch Heredität, durch vor- ausgegangene langwierige und schlimme psychische Eindrücke, durch eine weniger adäquate Ernährung, kurz auf irgend welche Weise zu dieser Art krankhafter Reaction geneigt gewordenen Gehirne auftritt. Insofern bilden die Kopfcongestionen die wichtigsten näheren Ursachen des Ausbruchs; sie setzen anderseits, wenn sie lange in mässigeren Graden anhalten, langsam ausgebildete Dispositionen, die erst mit dem Hinzutreten eines neuen schädlichen Moments, z. B. eines stärkeren psychischen Eindrucks, zu wahrem Irresein werden. Namentlich der Missbrauch der spirituösen Getränke scheint oft in letzterer Weise zu wirken.
Dritter Abschnitt. Die Ursachen der psychischen Krankheiten.
Erstes Kapitel. Wirkungsweisen der Ursachen.
§. 75.
Obwohl die Geisteskrankheiten in der Mehrzahl der Fälle aus einem Zusammenwirken mehrerer, zum Theil vieler ungünstiger Um- stände entstehen, so erscheinen doch gewöhnlich einige unter diesen Momenten so besonders wichtig und wirksam, dass man sie näher als die besondere Ursache bezeichnen muss, oder es kommen Fälle von Erkrankung vor, die man nur der Einwirkung eines einzigen un- günstigen Verhältnisses zuschreiben kann. Bei der Besprechung dieser näheren Ursachen haben wir theils gewisse äussere Schädlichkeiten, theils die widrigen Einflüsse gesundheitszerstörender Gewohnheiten, theils gewisse abnorme organische Zustände selbst zu würdigen, welche zunächst solche Erkrankungen des Gehirns einleiten können. Der Weg, auf dem sie wirken, ist ein doppelter: einmal durch eine, (statio- när werdende) nervöse Irritation des Gehirns, sodann durch Entwickelung von Hyperämieen in der Schädelhöhle. Nament- lich die letztere Entstehungsweise erscheint uns als eine ungemein wichtige, insoferne die pathologische Anatomie zeigt, dass Hyperämieen des Gehirns, namentlich der Gehirnrinde und der Pia, den allerge- wöhnlichsten Leichenbefund in den frischeren Fällen von Geistes- krankheit ausmachen, und als wir desshalb ohne allen Zweifel in diesen Hyperæmieen ausserordentlich oft den nächsten organischen Grund der psychischen Anomalieen zu erkennen haben.
Nicht so freilich, als ob jede Gehirnhyperämie bei jedem Menschen auch unmittelbar und nothwendig ein Irresein zur Folge haben müsste — die clinische Beobachtung zeigt uns oft genug habituelle Kopfcongestionen ohne diesen Sym- ptomencomplex; sondern diess ist unsere, aus den Thatsachen sich ergebende Ansicht, dass die Ausbildung einer Gehirnhyperämie da diese Symptome hervor- bringt, wo sie in einem schon disponirten, sei es durch Heredität, durch vor- ausgegangene langwierige und schlimme psychische Eindrücke, durch eine weniger adäquate Ernährung, kurz auf irgend welche Weise zu dieser Art krankhafter Reaction geneigt gewordenen Gehirne auftritt. Insofern bilden die Kopfcongestionen die wichtigsten näheren Ursachen des Ausbruchs; sie setzen anderseits, wenn sie lange in mässigeren Graden anhalten, langsam ausgebildete Dispositionen, die erst mit dem Hinzutreten eines neuen schädlichen Moments, z. B. eines stärkeren psychischen Eindrucks, zu wahrem Irresein werden. Namentlich der Missbrauch der spirituösen Getränke scheint oft in letzterer Weise zu wirken.
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Dritter Abschnitt.
Die Ursachen der psychischen Krankheiten.
Erstes Kapitel.
Wirkungsweisen der Ursachen.
§. 75.
Obwohl die Geisteskrankheiten in der Mehrzahl der Fälle aus
einem Zusammenwirken mehrerer, zum Theil vieler ungünstiger Um-
stände entstehen, so erscheinen doch gewöhnlich einige unter diesen
Momenten so besonders wichtig und wirksam, dass man sie näher
als die besondere Ursache bezeichnen muss, oder es kommen Fälle
von Erkrankung vor, die man nur der Einwirkung eines einzigen un-
günstigen Verhältnisses zuschreiben kann. Bei der Besprechung dieser
näheren Ursachen haben wir theils gewisse äussere Schädlichkeiten,
theils die widrigen Einflüsse gesundheitszerstörender Gewohnheiten,
theils gewisse abnorme organische Zustände selbst zu würdigen, welche
zunächst solche Erkrankungen des Gehirns einleiten können. Der
Weg, auf dem sie wirken, ist ein doppelter: einmal durch eine, (statio-
när werdende) nervöse Irritation des Gehirns, sodann durch
Entwickelung von Hyperämieen in der Schädelhöhle. Nament-
lich die letztere Entstehungsweise erscheint uns als eine ungemein
wichtige, insoferne die pathologische Anatomie zeigt, dass Hyperämieen
des Gehirns, namentlich der Gehirnrinde und der Pia, den allerge-
wöhnlichsten Leichenbefund in den frischeren Fällen von Geistes-
krankheit ausmachen, und als wir desshalb ohne allen Zweifel in diesen
Hyperæmieen ausserordentlich oft den nächsten organischen Grund
der psychischen Anomalieen zu erkennen haben.
Nicht so freilich, als ob jede Gehirnhyperämie bei jedem Menschen auch
unmittelbar und nothwendig ein Irresein zur Folge haben müsste — die clinische
Beobachtung zeigt uns oft genug habituelle Kopfcongestionen ohne diesen Sym-
ptomencomplex; sondern diess ist unsere, aus den Thatsachen sich ergebende
Ansicht, dass die Ausbildung einer Gehirnhyperämie da diese Symptome hervor-
bringt, wo sie in einem schon disponirten, sei es durch Heredität, durch vor-
ausgegangene langwierige und schlimme psychische Eindrücke, durch eine weniger
adäquate Ernährung, kurz auf irgend welche Weise zu dieser Art krankhafter
Reaction geneigt gewordenen Gehirne auftritt. Insofern bilden die Kopfcongestionen
die wichtigsten näheren Ursachen des Ausbruchs; sie setzen anderseits, wenn
sie lange in mässigeren Graden anhalten, langsam ausgebildete Dispositionen,
die erst mit dem Hinzutreten eines neuen schädlichen Moments, z. B. eines stärkeren
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/135>, abgerufen am 21.11.2024.
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