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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Haut-Nieren-Genitalienkrankheiten.
erinnern, dass, so lange die genauere anatomische Diagnose im ein-
zelnen Falle nicht gemacht ist, sowohl dem ätiologischen Urtheile,
als einer rationellen Therapie jeder sichere Anhaltspunkt entgeht. In
Bezug auf die Casuistik von Fällen nun, wo bei Irren nach dem Tode
Alterationen der Unterleibs-Eingeweide gefunden wurden, müssen wir
auf die reichhaltige Literatur über diesen Gegenstand (z. B. die Schrift
von Buzorini und die Reihe Bonner, unter Nasses Präsidium ausge-
arbeiteter Dissertationen) verweisen, noch einmal daran erinnernd,
dass ein bloss gleichzeitiges Vorkommen ohne alle Einsicht in den
Mechanismus der reciproquen Wirkung nicht genügt, jene Alterationen
als Ursachen des Irreseins zu betrachten.

Das Pellagra bietet ein auffallendes Beispiel des Zusammenvorkommens von
Irresein mit einer Hautkrankheit. Aber jene stets wiederholten Angaben von
Entstehung des Irreseins aus unterdrückten Ausschlägen, in Folge schnell ge-
heilter und vertrokneter Hautulcerationen etc. sind mit grosser Vorsicht und
Critik zu betrachten. Oft sind es die psychischen Ursachen, noch öfter schon
der Beginn des Irreseins selbst, unter deren Einfluss solche äussere Krankheiten
eine Aenderung des Verlaufs erleiden, und am wenigsten darf als von einer
Ursache des Irreseins von der Unterdrückung solcher Exantheme die Rede sein,
die, wie die Krätze, aus rein äusseren Ursachen entstehen.

Der Nierenkrankheiten und der Anomalieen im Chemismus der Urin-
secretion sei hier nur gedacht, um vielleicht genauere Untersuchungen bei den
Irren in dieser Beziehung anzuregen. Es ist bekannt, dass acute und chronische
Nierenkrankheiten, namentlich der Morbus Brightii, nicht selten unter bedeuten-
den Gehirnsymptomen verlaufen; *) einzelne Fälle (Rayer, mal. de reins I. 1839.
p. 523. Friedreich, allg. Pathologie etc. p. 402) von Irresein sind auch bekannt ge-
worden, wo solches offenbar in einem gewissen Zusammenhange mit einem Nieren-
leiden stand; und es fordern die Bemerkungen von Golding-Bird, **) welcher bei
dem Auftreten der Oxalate im Urin constant tiefe geistige Depression beobachtet
hat, zu grösserer Beachtung dieser Secretion auf, als ihr bisher in den Irren-
anstalten geschenkt wurde.

§. 86.

4) Von grosser Bedeutung bei beiden Geschlechtern sind die
krankmachenden Einflüsse, welche vom Genitaliensystem ausgehen.
Nur ausnahmsweise kommen Fälle vor, wo sexuelle Nichtbefrie-
digung
und Abstinenz als Hauptursache betrachtet werden muss;
eine Mitwirkung dieses Verhältnisses ist aber, namentlich beim weib-
lichen Geschlecht, nicht selten und namentlich vermag dasselbe dem
aus irgend welchem Grunde ausgebrochenen Irresein einen gewissen
besonderen Anstrich zu geben, indem der lange, zurückgedrängte

*) Addison, Guys hosp. reports. Apr. 1839. Oestr. Jahrb. 1840. Rayer,
malad. de reins. III. 1841. p. 153 seqq.
**) London Medical Gazette. August 1841.

Haut-Nieren-Genitalienkrankheiten.
erinnern, dass, so lange die genauere anatomische Diagnose im ein-
zelnen Falle nicht gemacht ist, sowohl dem ätiologischen Urtheile,
als einer rationellen Therapie jeder sichere Anhaltspunkt entgeht. In
Bezug auf die Casuistik von Fällen nun, wo bei Irren nach dem Tode
Alterationen der Unterleibs-Eingeweide gefunden wurden, müssen wir
auf die reichhaltige Literatur über diesen Gegenstand (z. B. die Schrift
von Buzorini und die Reihe Bonner, unter Nasses Präsidium ausge-
arbeiteter Dissertationen) verweisen, noch einmal daran erinnernd,
dass ein bloss gleichzeitiges Vorkommen ohne alle Einsicht in den
Mechanismus der reciproquen Wirkung nicht genügt, jene Alterationen
als Ursachen des Irreseins zu betrachten.

Das Pellagra bietet ein auffallendes Beispiel des Zusammenvorkommens von
Irresein mit einer Hautkrankheit. Aber jene stets wiederholten Angaben von
Entstehung des Irreseins aus unterdrückten Ausschlägen, in Folge schnell ge-
heilter und vertrokneter Hautulcerationen etc. sind mit grosser Vorsicht und
Critik zu betrachten. Oft sind es die psychischen Ursachen, noch öfter schon
der Beginn des Irreseins selbst, unter deren Einfluss solche äussere Krankheiten
eine Aenderung des Verlaufs erleiden, und am wenigsten darf als von einer
Ursache des Irreseins von der Unterdrückung solcher Exantheme die Rede sein,
die, wie die Krätze, aus rein äusseren Ursachen entstehen.

Der Nierenkrankheiten und der Anomalieen im Chemismus der Urin-
secretion sei hier nur gedacht, um vielleicht genauere Untersuchungen bei den
Irren in dieser Beziehung anzuregen. Es ist bekannt, dass acute und chronische
Nierenkrankheiten, namentlich der Morbus Brightii, nicht selten unter bedeuten-
den Gehirnsymptomen verlaufen; *) einzelne Fälle (Rayer, mal. de reins I. 1839.
p. 523. Friedreich, allg. Pathologie etc. p. 402) von Irresein sind auch bekannt ge-
worden, wo solches offenbar in einem gewissen Zusammenhange mit einem Nieren-
leiden stand; und es fordern die Bemerkungen von Golding-Bird, **) welcher bei
dem Auftreten der Oxalate im Urin constant tiefe geistige Depression beobachtet
hat, zu grösserer Beachtung dieser Secretion auf, als ihr bisher in den Irren-
anstalten geschenkt wurde.

§. 86.

4) Von grosser Bedeutung bei beiden Geschlechtern sind die
krankmachenden Einflüsse, welche vom Genitaliensystem ausgehen.
Nur ausnahmsweise kommen Fälle vor, wo sexuelle Nichtbefrie-
digung
und Abstinenz als Hauptursache betrachtet werden muss;
eine Mitwirkung dieses Verhältnisses ist aber, namentlich beim weib-
lichen Geschlecht, nicht selten und namentlich vermag dasselbe dem
aus irgend welchem Grunde ausgebrochenen Irresein einen gewissen
besonderen Anstrich zu geben, indem der lange, zurückgedrängte

*) Addison, Guys hosp. reports. Apr. 1839. Oestr. Jahrb. 1840. Rayer,
malad. de reins. III. 1841. p. 153 seqq.
**) London Medical Gazette. August 1841.
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[144/0158] Haut-Nieren-Genitalienkrankheiten. erinnern, dass, so lange die genauere anatomische Diagnose im ein- zelnen Falle nicht gemacht ist, sowohl dem ätiologischen Urtheile, als einer rationellen Therapie jeder sichere Anhaltspunkt entgeht. In Bezug auf die Casuistik von Fällen nun, wo bei Irren nach dem Tode Alterationen der Unterleibs-Eingeweide gefunden wurden, müssen wir auf die reichhaltige Literatur über diesen Gegenstand (z. B. die Schrift von Buzorini und die Reihe Bonner, unter Nasses Präsidium ausge- arbeiteter Dissertationen) verweisen, noch einmal daran erinnernd, dass ein bloss gleichzeitiges Vorkommen ohne alle Einsicht in den Mechanismus der reciproquen Wirkung nicht genügt, jene Alterationen als Ursachen des Irreseins zu betrachten. Das Pellagra bietet ein auffallendes Beispiel des Zusammenvorkommens von Irresein mit einer Hautkrankheit. Aber jene stets wiederholten Angaben von Entstehung des Irreseins aus unterdrückten Ausschlägen, in Folge schnell ge- heilter und vertrokneter Hautulcerationen etc. sind mit grosser Vorsicht und Critik zu betrachten. Oft sind es die psychischen Ursachen, noch öfter schon der Beginn des Irreseins selbst, unter deren Einfluss solche äussere Krankheiten eine Aenderung des Verlaufs erleiden, und am wenigsten darf als von einer Ursache des Irreseins von der Unterdrückung solcher Exantheme die Rede sein, die, wie die Krätze, aus rein äusseren Ursachen entstehen. Der Nierenkrankheiten und der Anomalieen im Chemismus der Urin- secretion sei hier nur gedacht, um vielleicht genauere Untersuchungen bei den Irren in dieser Beziehung anzuregen. Es ist bekannt, dass acute und chronische Nierenkrankheiten, namentlich der Morbus Brightii, nicht selten unter bedeuten- den Gehirnsymptomen verlaufen; *) einzelne Fälle (Rayer, mal. de reins I. 1839. p. 523. Friedreich, allg. Pathologie etc. p. 402) von Irresein sind auch bekannt ge- worden, wo solches offenbar in einem gewissen Zusammenhange mit einem Nieren- leiden stand; und es fordern die Bemerkungen von Golding-Bird, **) welcher bei dem Auftreten der Oxalate im Urin constant tiefe geistige Depression beobachtet hat, zu grösserer Beachtung dieser Secretion auf, als ihr bisher in den Irren- anstalten geschenkt wurde. §. 86. 4) Von grosser Bedeutung bei beiden Geschlechtern sind die krankmachenden Einflüsse, welche vom Genitaliensystem ausgehen. Nur ausnahmsweise kommen Fälle vor, wo sexuelle Nichtbefrie- digung und Abstinenz als Hauptursache betrachtet werden muss; eine Mitwirkung dieses Verhältnisses ist aber, namentlich beim weib- lichen Geschlecht, nicht selten und namentlich vermag dasselbe dem aus irgend welchem Grunde ausgebrochenen Irresein einen gewissen besonderen Anstrich zu geben, indem der lange, zurückgedrängte *) Addison, Guys hosp. reports. Apr. 1839. Oestr. Jahrb. 1840. Rayer, malad. de reins. III. 1841. p. 153 seqq. **) London Medical Gazette. August 1841.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/158>, abgerufen am 21.11.2024.