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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Körperliche Störungen.
Form der Melancholie, wo sich die innere Angst auch in körperlicher
Unruhe äussert. Die Kranken treiben sich dann unstet umher, oft
weinend und händeringend; oft zeigen sie Neigung im Freien herum-
zuirren, an entfernte Orte, zu Verwandten, Freunden zu laufen (Me-
lancholia errabunda). Dabei werden oft die Hände gerungen, auch
wohl die Arme in drehenden und zappelnden Bewegungen hin und
hergeworfen. Mit Recht findet man in diesen beiden Aeusserungs-
weisen des krankhaften psychischen Schmerzes die Analoga zu den
Erscheinungen des peinlichen Affects bei Gesunden, einerseits zu
dem Starrwerden vor Schrecken und Bestürzung, andrerseits zu der
körperlichen Unruhe und Aufregung (Herumlaufen, Gänge ins Freie etc.),
welche man in solchen Gemüthslagen beobachtet.

Die ausserdem vorhandenen Störungen des körperlichen Befindens
sind begreiflich ohne allen Werth für die Diagnose des Irreseins überhaupt oder
einer bestimmten Form desselben, von um so grösserem dagegen für die Aetio-
logie und Therapie. Sie sind nicht constant, und stehen zu dem Irresein in
einem verschiedenen Verhältnisse. Bald sind sie Symptome schon früher be-
standener Krankheiten, welche das Ihrige zur Entstehung der Gehirnkrankheit
beitrugen (z. B. die Herzaffectionen), bald zufällige Complicationen, bald Fol-
gen (Nebensymptome) der Gehirnkrankheit selbst. Zu den letzteren gehört na-
mentlich:

1) Der Mangel oder die Verminderung des Schlafes, so dass die Kranken
entweder ganz schlaflos bleiben, oder sich von ihrem Schlummer so wenig
erquickt fühlen, dass sie behaupten, wach geblieben zu sein (eine Art inneres
Fortwachen bei eingeschlafener Sinnesthätigkeit). Schwere, widrige Träume
sind häufig und die Hallucinationen entstehen nicht selten in den Zeiten des
Uebergangs von Schlaf zum Wachen.

2) Schmerzhafte Empfindungen im Kopfe, Hitze, Druck, Schwere, Ein-
genommenheit, Gefühl von Leere, von Wasser etc. im Schädel, wandernde
Schmerzen in verschiedenen Theilen, der Brust, der Wirbelsäule, der Magen-
grube etc., Unempfindlichkeit einzelner Hautstellen, Gefühle als ob ihnen ein-
zelne Glieder nicht mehr angehörten, eine wesentliche Herabsetzung der sexuellen
Empfindungen und daher fast constante Verminderung des Geschlechtstriebs sind
die Hauptsymptome einer veränderten Action der sensitiven Nerven.

3) Sehr häufig leidet die Verdauung und wie bei fast allen Gehirnkrank-
heiten, tritt gerne Verstopfung ein. Hieraus können sich einige Missgriffe in der
Aetiologie, die Annahme hypothetischer Stockungen und Infarkten ergeben,
während schon die so ganz gewöhnliche Beobachtung, wie bei den traurigen
Affecten des Gesunden so leicht secundäre Störungen in der Function des Darm-
canals auftreten, auf das richtige Verhältniss hinweisen. -- Oft findet man die
Zunge belegt und den Appetit abnorm, entweder mangelnd, oder, und zwar häu-
figer vermehrt, indem das Gefühl der Sättigung zu fehlen scheint. Eine auf-
fallende Gefrässigkeit und Naschhaftigkeit der Kranken bildet oft einen sonder-
baren, beinahe lächerlichen Contrast mit ihrer traurigen Verstimmung; man sieht
sie z. B. grosse Stücke Kuchen mit Hast hinunterschlingen, dabei aber stets

Körperliche Störungen.
Form der Melancholie, wo sich die innere Angst auch in körperlicher
Unruhe äussert. Die Kranken treiben sich dann unstet umher, oft
weinend und händeringend; oft zeigen sie Neigung im Freien herum-
zuirren, an entfernte Orte, zu Verwandten, Freunden zu laufen (Me-
lancholia errabunda). Dabei werden oft die Hände gerungen, auch
wohl die Arme in drehenden und zappelnden Bewegungen hin und
hergeworfen. Mit Recht findet man in diesen beiden Aeusserungs-
weisen des krankhaften psychischen Schmerzes die Analoga zu den
Erscheinungen des peinlichen Affects bei Gesunden, einerseits zu
dem Starrwerden vor Schrecken und Bestürzung, andrerseits zu der
körperlichen Unruhe und Aufregung (Herumlaufen, Gänge ins Freie etc.),
welche man in solchen Gemüthslagen beobachtet.

Die ausserdem vorhandenen Störungen des körperlichen Befindens
sind begreiflich ohne allen Werth für die Diagnose des Irreseins überhaupt oder
einer bestimmten Form desselben, von um so grösserem dagegen für die Aetio-
logie und Therapie. Sie sind nicht constant, und stehen zu dem Irresein in
einem verschiedenen Verhältnisse. Bald sind sie Symptome schon früher be-
standener Krankheiten, welche das Ihrige zur Entstehung der Gehirnkrankheit
beitrugen (z. B. die Herzaffectionen), bald zufällige Complicationen, bald Fol-
gen (Nebensymptome) der Gehirnkrankheit selbst. Zu den letzteren gehört na-
mentlich:

1) Der Mangel oder die Verminderung des Schlafes, so dass die Kranken
entweder ganz schlaflos bleiben, oder sich von ihrem Schlummer so wenig
erquickt fühlen, dass sie behaupten, wach geblieben zu sein (eine Art inneres
Fortwachen bei eingeschlafener Sinnesthätigkeit). Schwere, widrige Träume
sind häufig und die Hallucinationen entstehen nicht selten in den Zeiten des
Uebergangs von Schlaf zum Wachen.

2) Schmerzhafte Empfindungen im Kopfe, Hitze, Druck, Schwere, Ein-
genommenheit, Gefühl von Leere, von Wasser etc. im Schädel, wandernde
Schmerzen in verschiedenen Theilen, der Brust, der Wirbelsäule, der Magen-
grube etc., Unempfindlichkeit einzelner Hautstellen, Gefühle als ob ihnen ein-
zelne Glieder nicht mehr angehörten, eine wesentliche Herabsetzung der sexuellen
Empfindungen und daher fast constante Verminderung des Geschlechtstriebs sind
die Hauptsymptome einer veränderten Action der sensitiven Nerven.

3) Sehr häufig leidet die Verdauung und wie bei fast allen Gehirnkrank-
heiten, tritt gerne Verstopfung ein. Hieraus können sich einige Missgriffe in der
Aetiologie, die Annahme hypothetischer Stockungen und Infarkten ergeben,
während schon die so ganz gewöhnliche Beobachtung, wie bei den traurigen
Affecten des Gesunden so leicht secundäre Störungen in der Function des Darm-
canals auftreten, auf das richtige Verhältniss hinweisen. — Oft findet man die
Zunge belegt und den Appetit abnorm, entweder mangelnd, oder, und zwar häu-
figer vermehrt, indem das Gefühl der Sättigung zu fehlen scheint. Eine auf-
fallende Gefrässigkeit und Naschhaftigkeit der Kranken bildet oft einen sonder-
baren, beinahe lächerlichen Contrast mit ihrer traurigen Verstimmung; man sieht
sie z. B. grosse Stücke Kuchen mit Hast hinunterschlingen, dabei aber stets

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[173/0187] Körperliche Störungen. Form der Melancholie, wo sich die innere Angst auch in körperlicher Unruhe äussert. Die Kranken treiben sich dann unstet umher, oft weinend und händeringend; oft zeigen sie Neigung im Freien herum- zuirren, an entfernte Orte, zu Verwandten, Freunden zu laufen (Me- lancholia errabunda). Dabei werden oft die Hände gerungen, auch wohl die Arme in drehenden und zappelnden Bewegungen hin und hergeworfen. Mit Recht findet man in diesen beiden Aeusserungs- weisen des krankhaften psychischen Schmerzes die Analoga zu den Erscheinungen des peinlichen Affects bei Gesunden, einerseits zu dem Starrwerden vor Schrecken und Bestürzung, andrerseits zu der körperlichen Unruhe und Aufregung (Herumlaufen, Gänge ins Freie etc.), welche man in solchen Gemüthslagen beobachtet. Die ausserdem vorhandenen Störungen des körperlichen Befindens sind begreiflich ohne allen Werth für die Diagnose des Irreseins überhaupt oder einer bestimmten Form desselben, von um so grösserem dagegen für die Aetio- logie und Therapie. Sie sind nicht constant, und stehen zu dem Irresein in einem verschiedenen Verhältnisse. Bald sind sie Symptome schon früher be- standener Krankheiten, welche das Ihrige zur Entstehung der Gehirnkrankheit beitrugen (z. B. die Herzaffectionen), bald zufällige Complicationen, bald Fol- gen (Nebensymptome) der Gehirnkrankheit selbst. Zu den letzteren gehört na- mentlich: 1) Der Mangel oder die Verminderung des Schlafes, so dass die Kranken entweder ganz schlaflos bleiben, oder sich von ihrem Schlummer so wenig erquickt fühlen, dass sie behaupten, wach geblieben zu sein (eine Art inneres Fortwachen bei eingeschlafener Sinnesthätigkeit). Schwere, widrige Träume sind häufig und die Hallucinationen entstehen nicht selten in den Zeiten des Uebergangs von Schlaf zum Wachen. 2) Schmerzhafte Empfindungen im Kopfe, Hitze, Druck, Schwere, Ein- genommenheit, Gefühl von Leere, von Wasser etc. im Schädel, wandernde Schmerzen in verschiedenen Theilen, der Brust, der Wirbelsäule, der Magen- grube etc., Unempfindlichkeit einzelner Hautstellen, Gefühle als ob ihnen ein- zelne Glieder nicht mehr angehörten, eine wesentliche Herabsetzung der sexuellen Empfindungen und daher fast constante Verminderung des Geschlechtstriebs sind die Hauptsymptome einer veränderten Action der sensitiven Nerven. 3) Sehr häufig leidet die Verdauung und wie bei fast allen Gehirnkrank- heiten, tritt gerne Verstopfung ein. Hieraus können sich einige Missgriffe in der Aetiologie, die Annahme hypothetischer Stockungen und Infarkten ergeben, während schon die so ganz gewöhnliche Beobachtung, wie bei den traurigen Affecten des Gesunden so leicht secundäre Störungen in der Function des Darm- canals auftreten, auf das richtige Verhältniss hinweisen. — Oft findet man die Zunge belegt und den Appetit abnorm, entweder mangelnd, oder, und zwar häu- figer vermehrt, indem das Gefühl der Sättigung zu fehlen scheint. Eine auf- fallende Gefrässigkeit und Naschhaftigkeit der Kranken bildet oft einen sonder- baren, beinahe lächerlichen Contrast mit ihrer traurigen Verstimmung; man sieht sie z. B. grosse Stücke Kuchen mit Hast hinunterschlingen, dabei aber stets

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/187>, abgerufen am 21.11.2024.