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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Varietätcn der Schwermuth.
§. 98.

Die Aeusserungsweisen des psychischen Schmerzes in der Schwer-
muth sind so verschiedenartig und mannigfaltig, dass man von jeher
aus den Hauptunterschieden hierin einzelne Arten und Varie-
täten der Melancholie
bildete.

Insoferne sich die Differenz nur auf die Art und den Gegen-
stand
des Deliriums, welcher häufig mit den hervorstechendsten
psychischen Krankheitsursachen zusammenfällt, bezieht, ist die Auf-
stellung solcher Varietäten von nur mässigem Werth; in dieser Hin-
sicht sind hauptsächlich folgende Unterformen zu erwähnen.

1) Melancholia religiosa wurde die Aeusserungsweise der
Schwermuth genannt, wo sich das Delirium vorzugsweise um reli-
giöse Vorstellungen, den Wahn schwerer Versündigung, die Furcht
vor Höllenstrafen, das Verworfensein vor Gott etc. drehte. Es ist
häufig ganz in äusseren zufälligen Einwirkungen begründet, dass die
innere Angstempfindung gerade als Sündenangst sich äussert, oder
dass der Kranke in seiner traurigen Verstimmung den Trost der
Religion sucht, der hier freilich nicht die erwartete Wirkung, sondern
häufig nur die Steigerung der Angst zur Folge hat, und es ist hier
die Wirkung nicht mit der Ursache zu verwechseln. Denn so wenig
geläugnet wird, dass das stete Hervorrufen von Zerknirschung und Furcht
vor Höllenstrafen, überhaupt eine stete Bearbeitung im Sinne einer
trübsinnigen und ascetisch-eifernden Weltanschauung die geistige Energie
lähmen, das Vorherrschen trauriger Vorstellungen begünstigen, und
schwache Köpfe in inneren Zwiespalt und traurige Affecte versetzen,
damit aber auch zur Entstehung der Schwermuth wesentlich beitragen
kann, so sind doch in der grossen Mehrzahl der Fälle die von den
Melancholischen geäusserten religiösen Anfechtungen als Symptome der
schon bestehenden Krankheit, nicht als deren Ursachen zu betrachten.

Ebenso verhält es sich natürlich auch bei der interessanten Form
der Schwermuth, wo sich das Gefühl des Beherrscht- und Ueber-
wältigtseins (p. 170), in der Vorstellung des Besessenseins von
Dämonen ausspricht, die sogenannte Dämono-Melancholie, welche
in allen Ländern (namentlich auch in Frankreich nicht selten *) vor-
kommt, deren sich aber in neuerer Zeit in unserm Vaterlande theils
ein baroker Humor, theils der krasseste Aberglaube zu vielfachem
Missbrauche bemächtigt haben.

*) M. Macario, Etudes cliniques sur la demonomanie. Annal. med. psy-
chol. I. 1843. p. 440 seqq. Esquirol, übers. v. Bernhard. I. p. 280 seqq.
Varietätcn der Schwermuth.
§. 98.

Die Aeusserungsweisen des psychischen Schmerzes in der Schwer-
muth sind so verschiedenartig und mannigfaltig, dass man von jeher
aus den Hauptunterschieden hierin einzelne Arten und Varie-
täten der Melancholie
bildete.

Insoferne sich die Differenz nur auf die Art und den Gegen-
stand
des Deliriums, welcher häufig mit den hervorstechendsten
psychischen Krankheitsursachen zusammenfällt, bezieht, ist die Auf-
stellung solcher Varietäten von nur mässigem Werth; in dieser Hin-
sicht sind hauptsächlich folgende Unterformen zu erwähnen.

1) Melancholia religiosa wurde die Aeusserungsweise der
Schwermuth genannt, wo sich das Delirium vorzugsweise um reli-
giöse Vorstellungen, den Wahn schwerer Versündigung, die Furcht
vor Höllenstrafen, das Verworfensein vor Gott etc. drehte. Es ist
häufig ganz in äusseren zufälligen Einwirkungen begründet, dass die
innere Angstempfindung gerade als Sündenangst sich äussert, oder
dass der Kranke in seiner traurigen Verstimmung den Trost der
Religion sucht, der hier freilich nicht die erwartete Wirkung, sondern
häufig nur die Steigerung der Angst zur Folge hat, und es ist hier
die Wirkung nicht mit der Ursache zu verwechseln. Denn so wenig
geläugnet wird, dass das stete Hervorrufen von Zerknirschung und Furcht
vor Höllenstrafen, überhaupt eine stete Bearbeitung im Sinne einer
trübsinnigen und ascetisch-eifernden Weltanschauung die geistige Energie
lähmen, das Vorherrschen trauriger Vorstellungen begünstigen, und
schwache Köpfe in inneren Zwiespalt und traurige Affecte versetzen,
damit aber auch zur Entstehung der Schwermuth wesentlich beitragen
kann, so sind doch in der grossen Mehrzahl der Fälle die von den
Melancholischen geäusserten religiösen Anfechtungen als Symptome der
schon bestehenden Krankheit, nicht als deren Ursachen zu betrachten.

Ebenso verhält es sich natürlich auch bei der interessanten Form
der Schwermuth, wo sich das Gefühl des Beherrscht- und Ueber-
wältigtseins (p. 170), in der Vorstellung des Besessenseins von
Dämonen ausspricht, die sogenannte Dämono-Melancholie, welche
in allen Ländern (namentlich auch in Frankreich nicht selten *) vor-
kommt, deren sich aber in neuerer Zeit in unserm Vaterlande theils
ein baroker Humor, theils der krasseste Aberglaube zu vielfachem
Missbrauche bemächtigt haben.

*) M. Macario, Etudes cliniques sur la démonomanie. Annal. med. psy-
chol. I. 1843. p. 440 seqq. Esquirol, übers. v. Bernhard. I. p. 280 seqq.
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[181/0195] Varietätcn der Schwermuth. §. 98. Die Aeusserungsweisen des psychischen Schmerzes in der Schwer- muth sind so verschiedenartig und mannigfaltig, dass man von jeher aus den Hauptunterschieden hierin einzelne Arten und Varie- täten der Melancholie bildete. Insoferne sich die Differenz nur auf die Art und den Gegen- stand des Deliriums, welcher häufig mit den hervorstechendsten psychischen Krankheitsursachen zusammenfällt, bezieht, ist die Auf- stellung solcher Varietäten von nur mässigem Werth; in dieser Hin- sicht sind hauptsächlich folgende Unterformen zu erwähnen. 1) Melancholia religiosa wurde die Aeusserungsweise der Schwermuth genannt, wo sich das Delirium vorzugsweise um reli- giöse Vorstellungen, den Wahn schwerer Versündigung, die Furcht vor Höllenstrafen, das Verworfensein vor Gott etc. drehte. Es ist häufig ganz in äusseren zufälligen Einwirkungen begründet, dass die innere Angstempfindung gerade als Sündenangst sich äussert, oder dass der Kranke in seiner traurigen Verstimmung den Trost der Religion sucht, der hier freilich nicht die erwartete Wirkung, sondern häufig nur die Steigerung der Angst zur Folge hat, und es ist hier die Wirkung nicht mit der Ursache zu verwechseln. Denn so wenig geläugnet wird, dass das stete Hervorrufen von Zerknirschung und Furcht vor Höllenstrafen, überhaupt eine stete Bearbeitung im Sinne einer trübsinnigen und ascetisch-eifernden Weltanschauung die geistige Energie lähmen, das Vorherrschen trauriger Vorstellungen begünstigen, und schwache Köpfe in inneren Zwiespalt und traurige Affecte versetzen, damit aber auch zur Entstehung der Schwermuth wesentlich beitragen kann, so sind doch in der grossen Mehrzahl der Fälle die von den Melancholischen geäusserten religiösen Anfechtungen als Symptome der schon bestehenden Krankheit, nicht als deren Ursachen zu betrachten. Ebenso verhält es sich natürlich auch bei der interessanten Form der Schwermuth, wo sich das Gefühl des Beherrscht- und Ueber- wältigtseins (p. 170), in der Vorstellung des Besessenseins von Dämonen ausspricht, die sogenannte Dämono-Melancholie, welche in allen Ländern (namentlich auch in Frankreich nicht selten *) vor- kommt, deren sich aber in neuerer Zeit in unserm Vaterlande theils ein baroker Humor, theils der krasseste Aberglaube zu vielfachem Missbrauche bemächtigt haben. *) M. Macario, Etudes cliniques sur la démonomanie. Annal. med. psy- chol. I. 1843. p. 440 seqq. Esquirol, übers. v. Bernhard. I. p. 280 seqq.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/195>, abgerufen am 12.11.2024.