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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Beispiele.
herumirren, die ihr Betragen tadeln, ihr drohen, sie misshandeln. Sie verwei-
gert alle Tröstungen, sie bedarf einer übernatürlichen Macht; sie verflucht den
Teufel, der sie brennt und martert und verflucht Gott, der sie in die Hölle ge-
stürzt hat. Im Mai Marasmus; Respirationsbeschwerden, Oedem der Beine, un-
regelmässige Fröste; im Juni Durchfälle, schwarzer Zungenbeleg; die Kranke
seufzt viel, hat noch dasselbe Delirium und die feste Ueberzeugung nicht zu
sterben. Tod am 22. Juni. Section. Der Schädel dick, injicirt, der sichel-
förmige Fortsatz der dura gerippt (reticule) und nach vorn zerrissen; das Gehirn
weich, die graue Substanz blass; viel Serum in den Ventikeln. Allgemeine Tu-
berculose. Verwachsung des Herzens mit dem Pericardium.

(Esquirol, die Geisteskrankheiten v. B. I. p. 285.)

X. Krampfanfälle mit Wahn der Besitznahme und Verviel-
fachung der Persönlickeit, bei einem Kinde, von kurzer Dauer
. *)
Margarethe B., 11 Jahre alt, von etwas heftiger Gemüthsart, aber ein christ-
liches, frommes Kind, wurde den 19. Januar 1829 ohne vorher unwohl gewesen
zu sein, von krampfhaften Zufällen ergriffen, die sich mit wenigen und kurzen
Unterbrechungen zwei Tage lang wiederholten. So lange die Krampfanfälle dauerten,
war das Kind nicht beim Bewusstsein, sie verdrehte die Augen, machte Gri-
massen und allerlei sonderbare Bewegungen mit den Armen, und von Montag, den
21. Jan. an liess sich auch wiederholt eine tiefe Bassstimme vernehmen, mit den
Worten: "für dich betet man recht!" Sobald das Mädchen wieder zu sich kam,
war sie müde und erschöpft, wusste aber von allem Vorgefallenen Nichts und
sagte nur, sie habe geträumt. -- Am 22. Januar Abends fing eine andere, von
der obigen Bassstimme sich deutlich unterscheidende Stimme an, sich hören zu
lassen. Diese Stimme redete fast unaufhörlich so lange die Crisis dauerte, d. h.
halbe, ganze und auch mehre Stunden und wurde nur zuweilen von jener Bass-
stimme, die ihr voriges Recitativ standhaft wiederholte, unterbrochen. Augen-
scheinlich wollte diese Stimme eine von der Persönlichkeit des Mädchens ver-
schiedene Persönlichkeit darstellen, und unterschied sich auch von demselben
aufs genaueste, sich dasselbe objectivirend und in der dritten Person von ihr
redend. In den Aeusserungen dieser Stimme war durchaus nicht die mindeste
Verwirrtheit und Verrücktheit zu bemerken, sondern ganz strenge Consequenz,
die alle Fragen folgerecht beantwortete, oder mit Schalkheit von sich wies.
Was aber diesen Aeusserungen ihr Unterscheidendes gab, war der moralische,
oder vielmehr unmoralische Character derselben; Stolz, Arroganz, Spott, Hass
gegen die Wahrheit, gegen Gott und Christus, thaten sich in derselben kund. --
"Ich bin der Sohn Gottes, der Welt Heiland, mich müsst ihr anbeten," hörte
man jene Stimme zuerst sagen, und nachher oft wiederholen. Spott über alles
Heilige, Lästerung gegen Gott und Christus und gegen die Bibel, heftiger Un-
wille gegen alle, die das Gute lieben, die abscheulichsten Flüche, tausendfach
wiederholtes, grimmiges Wüthen und Toben beim Anblick eines Betenden, oder
auch nur bei gefalteten Händen -- das Alles konnte man als Symptome einer
fremden Einwirkung betrachten, wenn auch jene Stimme nicht selbst, wie es
wirklich geschah, den Namen des Redenden verrathen hätte, sich einen Teufel

*) Wir geben diese Krankheitsgeschichte wörtlich, zugleich als Probe von
der Naivetät dieser Erzählungen. Vgl. dazu das unten über den psychischen Zu-
stand in epileptischen Anfällen bemerkte.

Beispiele.
herumirren, die ihr Betragen tadeln, ihr drohen, sie misshandeln. Sie verwei-
gert alle Tröstungen, sie bedarf einer übernatürlichen Macht; sie verflucht den
Teufel, der sie brennt und martert und verflucht Gott, der sie in die Hölle ge-
stürzt hat. Im Mai Marasmus; Respirationsbeschwerden, Oedem der Beine, un-
regelmässige Fröste; im Juni Durchfälle, schwarzer Zungenbeleg; die Kranke
seufzt viel, hat noch dasselbe Delirium und die feste Ueberzeugung nicht zu
sterben. Tod am 22. Juni. Section. Der Schädel dick, injicirt, der sichel-
förmige Fortsatz der dura gerippt (reticulé) und nach vorn zerrissen; das Gehirn
weich, die graue Substanz blass; viel Serum in den Ventikeln. Allgemeine Tu-
berculose. Verwachsung des Herzens mit dem Pericardium.

(Esquirol, die Geisteskrankheiten v. B. I. p. 285.)

X. Krampfanfälle mit Wahn der Besitznahme und Verviel-
fachung der Persönlickeit, bei einem Kinde, von kurzer Dauer
. *)
Margarethe B., 11 Jahre alt, von etwas heftiger Gemüthsart, aber ein christ-
liches, frommes Kind, wurde den 19. Januar 1829 ohne vorher unwohl gewesen
zu sein, von krampfhaften Zufällen ergriffen, die sich mit wenigen und kurzen
Unterbrechungen zwei Tage lang wiederholten. So lange die Krampfanfälle dauerten,
war das Kind nicht beim Bewusstsein, sie verdrehte die Augen, machte Gri-
massen und allerlei sonderbare Bewegungen mit den Armen, und von Montag, den
21. Jan. an liess sich auch wiederholt eine tiefe Bassstimme vernehmen, mit den
Worten: „für dich betet man recht!“ Sobald das Mädchen wieder zu sich kam,
war sie müde und erschöpft, wusste aber von allem Vorgefallenen Nichts und
sagte nur, sie habe geträumt. — Am 22. Januar Abends fing eine andere, von
der obigen Bassstimme sich deutlich unterscheidende Stimme an, sich hören zu
lassen. Diese Stimme redete fast unaufhörlich so lange die Crisis dauerte, d. h.
halbe, ganze und auch mehre Stunden und wurde nur zuweilen von jener Bass-
stimme, die ihr voriges Recitativ standhaft wiederholte, unterbrochen. Augen-
scheinlich wollte diese Stimme eine von der Persönlichkeit des Mädchens ver-
schiedene Persönlichkeit darstellen, und unterschied sich auch von demselben
aufs genaueste, sich dasselbe objectivirend und in der dritten Person von ihr
redend. In den Aeusserungen dieser Stimme war durchaus nicht die mindeste
Verwirrtheit und Verrücktheit zu bemerken, sondern ganz strenge Consequenz,
die alle Fragen folgerecht beantwortete, oder mit Schalkheit von sich wies.
Was aber diesen Aeusserungen ihr Unterscheidendes gab, war der moralische,
oder vielmehr unmoralische Character derselben; Stolz, Arroganz, Spott, Hass
gegen die Wahrheit, gegen Gott und Christus, thaten sich in derselben kund. —
„Ich bin der Sohn Gottes, der Welt Heiland, mich müsst ihr anbeten,“ hörte
man jene Stimme zuerst sagen, und nachher oft wiederholen. Spott über alles
Heilige, Lästerung gegen Gott und Christus und gegen die Bibel, heftiger Un-
wille gegen alle, die das Gute lieben, die abscheulichsten Flüche, tausendfach
wiederholtes, grimmiges Wüthen und Toben beim Anblick eines Betenden, oder
auch nur bei gefalteten Händen — das Alles konnte man als Symptome einer
fremden Einwirkung betrachten, wenn auch jene Stimme nicht selbst, wie es
wirklich geschah, den Namen des Redenden verrathen hätte, sich einen Teufel

*) Wir geben diese Krankheitsgeschichte wörtlich, zugleich als Probe von
der Naivetät dieser Erzählungen. Vgl. dazu das unten über den psychischen Zu-
stand in epileptischen Anfällen bemerkte.
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[183/0197] Beispiele. herumirren, die ihr Betragen tadeln, ihr drohen, sie misshandeln. Sie verwei- gert alle Tröstungen, sie bedarf einer übernatürlichen Macht; sie verflucht den Teufel, der sie brennt und martert und verflucht Gott, der sie in die Hölle ge- stürzt hat. Im Mai Marasmus; Respirationsbeschwerden, Oedem der Beine, un- regelmässige Fröste; im Juni Durchfälle, schwarzer Zungenbeleg; die Kranke seufzt viel, hat noch dasselbe Delirium und die feste Ueberzeugung nicht zu sterben. Tod am 22. Juni. Section. Der Schädel dick, injicirt, der sichel- förmige Fortsatz der dura gerippt (reticulé) und nach vorn zerrissen; das Gehirn weich, die graue Substanz blass; viel Serum in den Ventikeln. Allgemeine Tu- berculose. Verwachsung des Herzens mit dem Pericardium. (Esquirol, die Geisteskrankheiten v. B. I. p. 285.) X. Krampfanfälle mit Wahn der Besitznahme und Verviel- fachung der Persönlickeit, bei einem Kinde, von kurzer Dauer. *) Margarethe B., 11 Jahre alt, von etwas heftiger Gemüthsart, aber ein christ- liches, frommes Kind, wurde den 19. Januar 1829 ohne vorher unwohl gewesen zu sein, von krampfhaften Zufällen ergriffen, die sich mit wenigen und kurzen Unterbrechungen zwei Tage lang wiederholten. So lange die Krampfanfälle dauerten, war das Kind nicht beim Bewusstsein, sie verdrehte die Augen, machte Gri- massen und allerlei sonderbare Bewegungen mit den Armen, und von Montag, den 21. Jan. an liess sich auch wiederholt eine tiefe Bassstimme vernehmen, mit den Worten: „für dich betet man recht!“ Sobald das Mädchen wieder zu sich kam, war sie müde und erschöpft, wusste aber von allem Vorgefallenen Nichts und sagte nur, sie habe geträumt. — Am 22. Januar Abends fing eine andere, von der obigen Bassstimme sich deutlich unterscheidende Stimme an, sich hören zu lassen. Diese Stimme redete fast unaufhörlich so lange die Crisis dauerte, d. h. halbe, ganze und auch mehre Stunden und wurde nur zuweilen von jener Bass- stimme, die ihr voriges Recitativ standhaft wiederholte, unterbrochen. Augen- scheinlich wollte diese Stimme eine von der Persönlichkeit des Mädchens ver- schiedene Persönlichkeit darstellen, und unterschied sich auch von demselben aufs genaueste, sich dasselbe objectivirend und in der dritten Person von ihr redend. In den Aeusserungen dieser Stimme war durchaus nicht die mindeste Verwirrtheit und Verrücktheit zu bemerken, sondern ganz strenge Consequenz, die alle Fragen folgerecht beantwortete, oder mit Schalkheit von sich wies. Was aber diesen Aeusserungen ihr Unterscheidendes gab, war der moralische, oder vielmehr unmoralische Character derselben; Stolz, Arroganz, Spott, Hass gegen die Wahrheit, gegen Gott und Christus, thaten sich in derselben kund. — „Ich bin der Sohn Gottes, der Welt Heiland, mich müsst ihr anbeten,“ hörte man jene Stimme zuerst sagen, und nachher oft wiederholen. Spott über alles Heilige, Lästerung gegen Gott und Christus und gegen die Bibel, heftiger Un- wille gegen alle, die das Gute lieben, die abscheulichsten Flüche, tausendfach wiederholtes, grimmiges Wüthen und Toben beim Anblick eines Betenden, oder auch nur bei gefalteten Händen — das Alles konnte man als Symptome einer fremden Einwirkung betrachten, wenn auch jene Stimme nicht selbst, wie es wirklich geschah, den Namen des Redenden verrathen hätte, sich einen Teufel *) Wir geben diese Krankheitsgeschichte wörtlich, zugleich als Probe von der Naivetät dieser Erzählungen. Vgl. dazu das unten über den psychischen Zu- stand in epileptischen Anfällen bemerkte.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/197>, abgerufen am 24.11.2024.