Wenn aber alles Irresein auf Gehirnaffection beruht, so gehören desshalb nicht alle Gehirnkrankheiten zu den Geisteskrankheiten. Welche Art von Gehirnerkrankung ist es nun, mit der man es bei dem Irresein zu thun hat? -- Vom anatomischen Standpunkte sind es die allerverschiedensten Erkrankungen, deren Symptomengruppe man Irresein nennt. Blosse Irritationen ohne merkliche Gewebever- änderung, Encephalitis der Gehirnrinde, Atrophie des Gehirns, Apo- plexia intermeningea, einfache Gehirnhyperamieen u. s. w., alle diese unter sich so ausserordentlich verschiedenen Zustände können Sym- ptomencomplexe geben, wegen deren man die Kranken in die Irren- häuser schickt und welche in den psychiatrischen Schriften als Geisteskrankheiten beschrieben werden. Jeder Versuch, das Irresein von den acuten oder chronischen Gehirnkrankheiten, wie sie vom anatomischen Standpunkte aus gebildet sind, z. B. der Meningitis, Encephalitis etc., zu unterscheiden, wäre das vergeblichste Unter- nehmen, da ja eben nicht wenige Fälle von Geisteskrankheit selbst Meningitis, Encephalitis etc. sind. Der Begriff der Geisteskrankheiten als ein rein symptomatologischer, liegt vielfach ganz innerhalb jener anatomischen Begriffe und die Objecte beider lassen sich gar nicht mit einander vergleichen.
Die Gehirnpathologie steht heute noch auf dem Standpunkt, den die Pathologie der Brustorgane vor Laennec einnahm. Statt überall von den Structurveränderungen des Organs ausgehen und das Zu- standekommen der Symptome in exacter Weise von den Verände- rungen der Gewebe ableiten zu können, hat sie es häufig genug mit Symptomencomplexen zu thun, von denen sie den Sitz kaum annähe- rungsweise und den Mechanismus der Entstehung gar nicht kennt. Sie muss sich an das Aeussere der Phänomene halten und muss noch Krankheitsgruppen nach etwas Gemeinsamem und charakteristischem in den Symptomen, zunächst abgesehen von deren anatomischer Grundlage, bilden. So die Epilepsie, die Chorea etc.; so auch die psychischen oder Geisteskrankheiten, unter welchen wir also alle die- jenigen Gehirnaffectionen zu begreifen haben, bei denen Anomalieen, Störungen im Vorstellen und Wollen die für die Beobachtung hervorstechendste Symptomengruppe bilden.
Was das Irresein ist, erfährt nur der, der es im Einzelnen studirt; Defi- nitionen von den Geisteskrankheiten, vom Irresein wären so unmöglich und zwecklos, wie Definitionen von der Wassersucht und Phtisis, oder wie eine Definition des russischen Feldzugs. Nur das braucht bemerkt zu werden, dass
Welche Gehirnkrankheiten sind psych. Krankheiten?
§. 5.
Wenn aber alles Irresein auf Gehirnaffection beruht, so gehören desshalb nicht alle Gehirnkrankheiten zu den Geisteskrankheiten. Welche Art von Gehirnerkrankung ist es nun, mit der man es bei dem Irresein zu thun hat? — Vom anatomischen Standpunkte sind es die allerverschiedensten Erkrankungen, deren Symptomengruppe man Irresein nennt. Blosse Irritationen ohne merkliche Gewebever- änderung, Encephalitis der Gehirnrinde, Atrophie des Gehirns, Apo- plexia intermeningea, einfache Gehirnhyperamieen u. s. w., alle diese unter sich so ausserordentlich verschiedenen Zustände können Sym- ptomencomplexe geben, wegen deren man die Kranken in die Irren- häuser schickt und welche in den psychiatrischen Schriften als Geisteskrankheiten beschrieben werden. Jeder Versuch, das Irresein von den acuten oder chronischen Gehirnkrankheiten, wie sie vom anatomischen Standpunkte aus gebildet sind, z. B. der Meningitis, Encephalitis etc., zu unterscheiden, wäre das vergeblichste Unter- nehmen, da ja eben nicht wenige Fälle von Geisteskrankheit selbst Meningitis, Encephalitis etc. sind. Der Begriff der Geisteskrankheiten als ein rein symptomatologischer, liegt vielfach ganz innerhalb jener anatomischen Begriffe und die Objecte beider lassen sich gar nicht mit einander vergleichen.
Die Gehirnpathologie steht heute noch auf dem Standpunkt, den die Pathologie der Brustorgane vor Laënnec einnahm. Statt überall von den Structurveränderungen des Organs ausgehen und das Zu- standekommen der Symptome in exacter Weise von den Verände- rungen der Gewebe ableiten zu können, hat sie es häufig genug mit Symptomencomplexen zu thun, von denen sie den Sitz kaum annähe- rungsweise und den Mechanismus der Entstehung gar nicht kennt. Sie muss sich an das Aeussere der Phänomene halten und muss noch Krankheitsgruppen nach etwas Gemeinsamem und charakteristischem in den Symptomen, zunächst abgesehen von deren anatomischer Grundlage, bilden. So die Epilepsie, die Chorea etc.; so auch die psychischen oder Geisteskrankheiten, unter welchen wir also alle die- jenigen Gehirnaffectionen zu begreifen haben, bei denen Anomalieen, Störungen im Vorstellen und Wollen die für die Beobachtung hervorstechendste Symptomengruppe bilden.
Was das Irresein ist, erfährt nur der, der es im Einzelnen studirt; Defi- nitionen von den Geisteskrankheiten, vom Irresein wären so unmöglich und zwecklos, wie Definitionen von der Wassersucht und Phtisis, oder wie eine Definition des russischen Feldzugs. Nur das braucht bemerkt zu werden, dass
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Welche Gehirnkrankheiten sind psych. Krankheiten?
§. 5.
Wenn aber alles Irresein auf Gehirnaffection beruht, so gehören
desshalb nicht alle Gehirnkrankheiten zu den Geisteskrankheiten.
Welche Art von Gehirnerkrankung ist es nun, mit der man es bei
dem Irresein zu thun hat? — Vom anatomischen Standpunkte sind
es die allerverschiedensten Erkrankungen, deren Symptomengruppe
man Irresein nennt. Blosse Irritationen ohne merkliche Gewebever-
änderung, Encephalitis der Gehirnrinde, Atrophie des Gehirns, Apo-
plexia intermeningea, einfache Gehirnhyperamieen u. s. w., alle diese
unter sich so ausserordentlich verschiedenen Zustände können Sym-
ptomencomplexe geben, wegen deren man die Kranken in die Irren-
häuser schickt und welche in den psychiatrischen Schriften als
Geisteskrankheiten beschrieben werden. Jeder Versuch, das Irresein
von den acuten oder chronischen Gehirnkrankheiten, wie sie vom
anatomischen Standpunkte aus gebildet sind, z. B. der Meningitis,
Encephalitis etc., zu unterscheiden, wäre das vergeblichste Unter-
nehmen, da ja eben nicht wenige Fälle von Geisteskrankheit selbst
Meningitis, Encephalitis etc. sind. Der Begriff der Geisteskrankheiten
als ein rein symptomatologischer, liegt vielfach ganz innerhalb jener
anatomischen Begriffe und die Objecte beider lassen sich gar nicht
mit einander vergleichen.
Die Gehirnpathologie steht heute noch auf dem Standpunkt, den
die Pathologie der Brustorgane vor Laënnec einnahm. Statt überall
von den Structurveränderungen des Organs ausgehen und das Zu-
standekommen der Symptome in exacter Weise von den Verände-
rungen der Gewebe ableiten zu können, hat sie es häufig genug mit
Symptomencomplexen zu thun, von denen sie den Sitz kaum annähe-
rungsweise und den Mechanismus der Entstehung gar nicht kennt.
Sie muss sich an das Aeussere der Phänomene halten und muss noch
Krankheitsgruppen nach etwas Gemeinsamem und charakteristischem
in den Symptomen, zunächst abgesehen von deren anatomischer
Grundlage, bilden. So die Epilepsie, die Chorea etc.; so auch die
psychischen oder Geisteskrankheiten, unter welchen wir also alle die-
jenigen Gehirnaffectionen zu begreifen haben, bei denen Anomalieen,
Störungen im Vorstellen und Wollen die für die Beobachtung
hervorstechendste Symptomengruppe bilden.
Was das Irresein ist, erfährt nur der, der es im Einzelnen studirt; Defi-
nitionen von den Geisteskrankheiten, vom Irresein wären so unmöglich und
zwecklos, wie Definitionen von der Wassersucht und Phtisis, oder wie eine
Definition des russischen Feldzugs. Nur das braucht bemerkt zu werden, dass
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/21>, abgerufen am 23.11.2024.
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