Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Beispiele von Schwermuth
gedrückt hat, und er athmet tief auf, dass er so glücklich vorüber-
ging. Anderemale aber -- zum Glück hier seltener -- unterliegt das
Ich, und der Unglückliche begeht das Verbrechen, ohne den mindesten
Gewinn, mit der sichern Aussicht auf Schande und Elend, ja in der
gewissen Erwartung eines schimpflichen Todes durch Hinrichtung,
der ihm aber gegen die jetzige Angst und Seelenqual, welche um
jeden Preis aufhören muss, als ein Leichtes und als eine Wohlthat
erscheint.

XXI. M. R., ein ausgezeichneter Chemiker und liebenswürdiger Dichter, von
einem an sich sanften und geselligen Character, meldete sich selbst als Gefan-
gener in einem Krankenhause des Faubourg St. Antoine. Von dem Antriebe
zum Morden gequält, warf er sich oft vor den Altären nieder, und flehte Gott
um Befreiung von dieser scheusslichen Neigung an, über deren Ursprung er sich
niemals Rechenschaft ablegen konnte. Wenn der Kranke spürte, dass sein
Wille auf dem Punkte stand, jenem Antriebe nachzugeben, eilte er zu dem Vor-
steher der Anstalt, und liess sich beide Daumen mit einem Bande zusammenbin-
den. Dies schwache Band reichte hin, den unglücklichen R. zu beruhigon, wel-
cher dennoch zuletzt einen meuchelmörderischen Angriff auf seinen Wächter
machte, und hierauf in einem Anfalle der heftigsten Wuth starb. R. hinterliess
eine Reihe von Briefen, in denen er sich bemühte, seine inneren Empfindungen
zu schildern. Sie thun dar, dass der Antrieb zum Morden sich bei ihm auf
kein Motiv, auf kein Raisonnement gründete, und daher völlig instinctartig war.
Diese sehr interessanten Briefe, welche ich zu einem grossen Theil gelesen
habe, kamen in die Hände des Dr. Gall, und sind unglücklicherweise verloren
gegangen. (Marc. übersetzt von Ideler. I. p. 169.)

XXII. Catharine Olhaver, auf einem Dorfe, als das dritte eheliche Kind
armer Eltern, im Jahr 1788 geboren, hatte frühe von der Brust genommen wer-
den müssen, weil die Mutter, wie der Säugling eben erst in die sechste Woche
seines Alters getreten war, von einem heftigen hitzigen Fieber befallen worden.
Diese Krankheit begann, ehe noch andere Erscheinungen derselben eingetreten
waren, mit dem Vorsatz, den Säugling zu ermorden. Um dies ins Werk zu
setzen, trennte sie eine Seite ihres Oberbettes auf, und gedachte das Kind in
dieses hinein zu stecken, damit es in den Federn ersticke und zugleich darin
verborgen bleibe. Sie wurde an der Ausführung dieses Vorsatzes gehindert,
worauf sich sogleich das Fieber in seiner ganzen Heftigkeit äusserte und meh-
rere Wochen hindurch anhielt. Nach der Genesung wusste diese Frau sich ihrer
bösen Absicht nicht mehr zu erinnern, und verpflegte das Kind mit mütterlicher
Sorgfalt. Sie lebt noch und hat nie wieder ähnliche Anfälle gehabt.

Ohngeachtet einer ärmlichen Erziehung, wuchs Catharine gesund haran; sie
soll zuweilen an Würmern gelitten haben. Der Monatsfluss stellte sich erst spät
ein, war jedoch hernach beständig regelmässig. Ihr erster Umgang mit einem
Manne hatte Schwangerschaft zur Folge. Am 21. Januar 1821 gebar sie leicht
und glücklich einen gesunden Knaben, den sie anfangs selber nährte. Bald nach
ihrer Entbindung traf sie nach heftigem Aerger ein Anfall von Epilepsie,
der sich hernach aber nicht wieder einstellte. Als ihr Kind sechs Wochen alt
war, übernahm sie einen Ammendienst, in dem sie sich sehr wohl betrug, sich

Beispiele von Schwermuth
gedrückt hat, und er athmet tief auf, dass er so glücklich vorüber-
ging. Anderemale aber — zum Glück hier seltener — unterliegt das
Ich, und der Unglückliche begeht das Verbrechen, ohne den mindesten
Gewinn, mit der sichern Aussicht auf Schande und Elend, ja in der
gewissen Erwartung eines schimpflichen Todes durch Hinrichtung,
der ihm aber gegen die jetzige Angst und Seelenqual, welche um
jeden Preis aufhören muss, als ein Leichtes und als eine Wohlthat
erscheint.

XXI. M. R., ein ausgezeichneter Chemiker und liebenswürdiger Dichter, von
einem an sich sanften und geselligen Character, meldete sich selbst als Gefan-
gener in einem Krankenhause des Faubourg St. Antoine. Von dem Antriebe
zum Morden gequält, warf er sich oft vor den Altären nieder, und flehte Gott
um Befreiung von dieser scheusslichen Neigung an, über deren Ursprung er sich
niemals Rechenschaft ablegen konnte. Wenn der Kranke spürte, dass sein
Wille auf dem Punkte stand, jenem Antriebe nachzugeben, eilte er zu dem Vor-
steher der Anstalt, und liess sich beide Daumen mit einem Bande zusammenbin-
den. Dies schwache Band reichte hin, den unglücklichen R. zu beruhigon, wel-
cher dennoch zuletzt einen meuchelmörderischen Angriff auf seinen Wächter
machte, und hierauf in einem Anfalle der heftigsten Wuth starb. R. hinterliess
eine Reihe von Briefen, in denen er sich bemühte, seine inneren Empfindungen
zu schildern. Sie thun dar, dass der Antrieb zum Morden sich bei ihm auf
kein Motiv, auf kein Raisonnement gründete, und daher völlig instinctartig war.
Diese sehr interessanten Briefe, welche ich zu einem grossen Theil gelesen
habe, kamen in die Hände des Dr. Gall, und sind unglücklicherweise verloren
gegangen. (Marc. übersetzt von Ideler. I. p. 169.)

XXII. Catharine Olhaver, auf einem Dorfe, als das dritte eheliche Kind
armer Eltern, im Jahr 1788 geboren, hatte frühe von der Brust genommen wer-
den müssen, weil die Mutter, wie der Säugling eben erst in die sechste Woche
seines Alters getreten war, von einem heftigen hitzigen Fieber befallen worden.
Diese Krankheit begann, ehe noch andere Erscheinungen derselben eingetreten
waren, mit dem Vorsatz, den Säugling zu ermorden. Um dies ins Werk zu
setzen, trennte sie eine Seite ihres Oberbettes auf, und gedachte das Kind in
dieses hinein zu stecken, damit es in den Federn ersticke und zugleich darin
verborgen bleibe. Sie wurde an der Ausführung dieses Vorsatzes gehindert,
worauf sich sogleich das Fieber in seiner ganzen Heftigkeit äusserte und meh-
rere Wochen hindurch anhielt. Nach der Genesung wusste diese Frau sich ihrer
bösen Absicht nicht mehr zu erinnern, und verpflegte das Kind mit mütterlicher
Sorgfalt. Sie lebt noch und hat nie wieder ähnliche Anfälle gehabt.

Ohngeachtet einer ärmlichen Erziehung, wuchs Catharine gesund haran; sie
soll zuweilen an Würmern gelitten haben. Der Monatsfluss stellte sich erst spät
ein, war jedoch hernach beständig regelmässig. Ihr erster Umgang mit einem
Manne hatte Schwangerschaft zur Folge. Am 21. Januar 1821 gebar sie leicht
und glücklich einen gesunden Knaben, den sie anfangs selber nährte. Bald nach
ihrer Entbindung traf sie nach heftigem Aerger ein Anfall von Epilepsie,
der sich hernach aber nicht wieder einstellte. Als ihr Kind sechs Wochen alt
war, übernahm sie einen Ammendienst, in dem sie sich sehr wohl betrug, sich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0216" n="202"/><fw place="top" type="header">Beispiele von Schwermuth</fw><lb/>
gedrückt hat, und er athmet tief auf, dass er so glücklich vorüber-<lb/>
ging. Anderemale aber &#x2014; zum Glück hier seltener &#x2014; unterliegt das<lb/>
Ich, und der Unglückliche begeht das Verbrechen, ohne den mindesten<lb/>
Gewinn, mit der sichern Aussicht auf Schande und Elend, ja in der<lb/>
gewissen Erwartung eines schimpflichen Todes durch Hinrichtung,<lb/>
der ihm aber gegen die jetzige Angst und Seelenqual, welche um<lb/>
jeden Preis aufhören muss, als ein Leichtes und als eine Wohlthat<lb/>
erscheint.</p><lb/>
                <p>XXI. M. R., ein ausgezeichneter Chemiker und liebenswürdiger Dichter, von<lb/>
einem an sich sanften und geselligen Character, meldete sich selbst als Gefan-<lb/>
gener in einem Krankenhause des Faubourg St. Antoine. Von dem Antriebe<lb/>
zum Morden gequält, warf er sich oft vor den Altären nieder, und flehte Gott<lb/>
um Befreiung von dieser scheusslichen Neigung an, über deren Ursprung er sich<lb/>
niemals Rechenschaft ablegen konnte. Wenn der Kranke spürte, dass sein<lb/>
Wille auf dem Punkte stand, jenem Antriebe nachzugeben, eilte er zu dem Vor-<lb/>
steher der Anstalt, und liess sich beide Daumen mit einem Bande zusammenbin-<lb/>
den. Dies schwache Band reichte hin, den unglücklichen R. zu beruhigon, wel-<lb/>
cher dennoch zuletzt einen meuchelmörderischen Angriff auf seinen Wächter<lb/>
machte, und hierauf in einem Anfalle der heftigsten Wuth starb. R. hinterliess<lb/>
eine Reihe von Briefen, in denen er sich bemühte, seine inneren Empfindungen<lb/>
zu schildern. Sie thun dar, dass der Antrieb zum Morden sich bei ihm auf<lb/>
kein Motiv, auf kein Raisonnement gründete, und daher völlig instinctartig war.<lb/>
Diese sehr interessanten Briefe, welche ich zu einem grossen Theil gelesen<lb/>
habe, kamen in die Hände des Dr. Gall, und sind unglücklicherweise verloren<lb/>
gegangen. <hi rendition="#et">(Marc. übersetzt von Ideler. I. p. 169.)</hi></p><lb/>
                <p>XXII. Catharine Olhaver, auf einem Dorfe, als das dritte eheliche Kind<lb/>
armer Eltern, im Jahr 1788 geboren, hatte frühe von der Brust genommen wer-<lb/>
den müssen, weil die Mutter, wie der Säugling eben erst in die sechste Woche<lb/>
seines Alters getreten war, von einem heftigen hitzigen Fieber befallen worden.<lb/>
Diese Krankheit begann, ehe noch andere Erscheinungen derselben eingetreten<lb/>
waren, mit dem Vorsatz, den Säugling zu ermorden. Um dies ins Werk zu<lb/>
setzen, trennte sie eine Seite ihres Oberbettes auf, und gedachte das Kind in<lb/>
dieses hinein zu stecken, damit es in den Federn ersticke und zugleich darin<lb/>
verborgen bleibe. Sie wurde an der Ausführung dieses Vorsatzes gehindert,<lb/>
worauf sich sogleich das Fieber in seiner ganzen Heftigkeit äusserte und meh-<lb/>
rere Wochen hindurch anhielt. Nach der Genesung wusste diese Frau sich ihrer<lb/>
bösen Absicht nicht mehr zu erinnern, und verpflegte das Kind mit mütterlicher<lb/>
Sorgfalt. Sie lebt noch und hat nie wieder ähnliche Anfälle gehabt.</p><lb/>
                <p>Ohngeachtet einer ärmlichen Erziehung, wuchs Catharine gesund haran; sie<lb/>
soll zuweilen an Würmern gelitten haben. Der Monatsfluss stellte sich erst spät<lb/>
ein, war jedoch hernach beständig regelmässig. Ihr erster Umgang mit einem<lb/>
Manne hatte Schwangerschaft zur Folge. Am 21. Januar 1821 gebar sie leicht<lb/>
und glücklich einen gesunden Knaben, den sie anfangs selber nährte. Bald nach<lb/>
ihrer Entbindung traf sie nach heftigem Aerger ein <hi rendition="#g">Anfall von Epilepsie</hi>,<lb/>
der sich hernach aber nicht wieder einstellte. Als ihr Kind sechs Wochen alt<lb/>
war, übernahm sie einen Ammendienst, in dem sie sich sehr wohl betrug, sich<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[202/0216] Beispiele von Schwermuth gedrückt hat, und er athmet tief auf, dass er so glücklich vorüber- ging. Anderemale aber — zum Glück hier seltener — unterliegt das Ich, und der Unglückliche begeht das Verbrechen, ohne den mindesten Gewinn, mit der sichern Aussicht auf Schande und Elend, ja in der gewissen Erwartung eines schimpflichen Todes durch Hinrichtung, der ihm aber gegen die jetzige Angst und Seelenqual, welche um jeden Preis aufhören muss, als ein Leichtes und als eine Wohlthat erscheint. XXI. M. R., ein ausgezeichneter Chemiker und liebenswürdiger Dichter, von einem an sich sanften und geselligen Character, meldete sich selbst als Gefan- gener in einem Krankenhause des Faubourg St. Antoine. Von dem Antriebe zum Morden gequält, warf er sich oft vor den Altären nieder, und flehte Gott um Befreiung von dieser scheusslichen Neigung an, über deren Ursprung er sich niemals Rechenschaft ablegen konnte. Wenn der Kranke spürte, dass sein Wille auf dem Punkte stand, jenem Antriebe nachzugeben, eilte er zu dem Vor- steher der Anstalt, und liess sich beide Daumen mit einem Bande zusammenbin- den. Dies schwache Band reichte hin, den unglücklichen R. zu beruhigon, wel- cher dennoch zuletzt einen meuchelmörderischen Angriff auf seinen Wächter machte, und hierauf in einem Anfalle der heftigsten Wuth starb. R. hinterliess eine Reihe von Briefen, in denen er sich bemühte, seine inneren Empfindungen zu schildern. Sie thun dar, dass der Antrieb zum Morden sich bei ihm auf kein Motiv, auf kein Raisonnement gründete, und daher völlig instinctartig war. Diese sehr interessanten Briefe, welche ich zu einem grossen Theil gelesen habe, kamen in die Hände des Dr. Gall, und sind unglücklicherweise verloren gegangen. (Marc. übersetzt von Ideler. I. p. 169.) XXII. Catharine Olhaver, auf einem Dorfe, als das dritte eheliche Kind armer Eltern, im Jahr 1788 geboren, hatte frühe von der Brust genommen wer- den müssen, weil die Mutter, wie der Säugling eben erst in die sechste Woche seines Alters getreten war, von einem heftigen hitzigen Fieber befallen worden. Diese Krankheit begann, ehe noch andere Erscheinungen derselben eingetreten waren, mit dem Vorsatz, den Säugling zu ermorden. Um dies ins Werk zu setzen, trennte sie eine Seite ihres Oberbettes auf, und gedachte das Kind in dieses hinein zu stecken, damit es in den Federn ersticke und zugleich darin verborgen bleibe. Sie wurde an der Ausführung dieses Vorsatzes gehindert, worauf sich sogleich das Fieber in seiner ganzen Heftigkeit äusserte und meh- rere Wochen hindurch anhielt. Nach der Genesung wusste diese Frau sich ihrer bösen Absicht nicht mehr zu erinnern, und verpflegte das Kind mit mütterlicher Sorgfalt. Sie lebt noch und hat nie wieder ähnliche Anfälle gehabt. Ohngeachtet einer ärmlichen Erziehung, wuchs Catharine gesund haran; sie soll zuweilen an Würmern gelitten haben. Der Monatsfluss stellte sich erst spät ein, war jedoch hernach beständig regelmässig. Ihr erster Umgang mit einem Manne hatte Schwangerschaft zur Folge. Am 21. Januar 1821 gebar sie leicht und glücklich einen gesunden Knaben, den sie anfangs selber nährte. Bald nach ihrer Entbindung traf sie nach heftigem Aerger ein Anfall von Epilepsie, der sich hernach aber nicht wieder einstellte. Als ihr Kind sechs Wochen alt war, übernahm sie einen Ammendienst, in dem sie sich sehr wohl betrug, sich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/216
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/216>, abgerufen am 25.11.2024.