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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Schwermuth mit Mord-
sitzt sie immer stumm, in sich gekehrt, oft mit stierem und wildem Blick und
mit ungewöhnlicher Röthe im Gesichte, ohne sich, wie sie sonst immer pflegte,
mit dem Kinde besonders abzugeben, es umherzutragen, es zu liebkosen und ihm
zu schmeicheln. Endlich um fünf Uhr Nachmittags, nachdem sie dreimal von der
unterdessen verordneten Arznei eingenommen hatte, fühlt sie Beruhigung und
Erleichterung. Nur einmal noch, in der Nacht vom Montag auf den Dienstag
wandelt sie jene Mordlust wieder an; sie springt aber schnell aus dem Bette
und nimmt Arznei, wornach sie sich beruhigt fühlt. Seitdem ist sie von allen
ähnlichen Anwandlungen frei geblieben. Am Dienstag gestand sie Alles unter
vielen Thränen.

Der Anfall traf nicht mit der Menstruation zusammen, nicht die kleinste
veranlassende Ursache konnte aufgefunden werden. Die Arzneien bestanden
aus Potio Riveri, Brechmittel, Valeriana etc. Das Kind starb im November, die
Amme hatte es während seiner letzten Lebenszeit mit dem stillen Ausdruck des
tiefsten Schmerzes in den Armen gehalten und verfiel als es endlich gestorben
war in die grösste Verzweiflung, die indessen bald vorüberging und einer ruhi-
geren Trauer Platz machte.

(Mende, in Henke Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. 1821. 2tes Vierteljahrsheft. p. 274.)

XXIII. Die Frau eines Schuhmachers besuchte mich eines Tages wegen
eines Leidens über das sie verzweifeln will; sie zeigt alle Merkmale geistiger
und körperlicher Gesundheit, aber sie klagt unaufhörlich durch den Gedanken
belästigt zu werden, ihre vier Kinder umzubringen, welche sie doch, wie sie
sagt, mehr liebt als sich selbst. Sie fürchtet einen schlimmen Streich zu machen,
sie ist in Verzweiflung, sie will sich zum Fenster hinausstürzen; sie fühlt einen
unwiderstehlichen Drang ohne Gründe dazu zu haben und verfällt dadurch in ein
allgemeines Zittern. Gegen andere Kinder fühlt sie keine solche schlimme Gelüste,
nur ihre eigenen muss sie fliehen und aus Furcht zu unterliegen, verbirgt sie sorg-
fältig alle Werkzeuge, die ihr in die Hände fallen können. Sie steigt bestän-
dig Treppen auf und ab, um durch Bewegung und Ermüdung jene Gedanken zu
vertreiben; dieser Mordtrieb währt etwa ein Vierteljahr und hört dann von selbst
wieder auf mit der Rückkehr der Menses.

(Georget, Discussion medico-legale sur la solie. 1826.)

Für die blutdürstigen Grillen dieser Art mag allerdings *) die Ge-
danken-Entstehung nach dem Gesetze des Contrastes (§. 16.) fast den
einzigen Anknüpfungspunkt an die Vorgänge des gesunden Seelen-
lebens bieten, wiewohl es von der Thatsache, dass in dem Glück-
lichen der Gedanke der Noth und des Elends, in dem Liebenden
der Gedanke der Untreue, in dem auf steiler Höhe Steheuden der
Gedanke eines tiefen Sturzes leicht entstehen kann, noch weit ist zu
diesen, das Handeln provocirenden, fix und anhaltend nach Aussen
drängenden Vorstellungen.

Etwas deutlicher in ihrer psychologischen Motivirung sind die

*) Vgl. die Zusätze Idelers zum 4ten und 9ten Abschnitt der Schrift von
Marc.

Schwermuth mit Mord-
sitzt sie immer stumm, in sich gekehrt, oft mit stierem und wildem Blick und
mit ungewöhnlicher Röthe im Gesichte, ohne sich, wie sie sonst immer pflegte,
mit dem Kinde besonders abzugeben, es umherzutragen, es zu liebkosen und ihm
zu schmeicheln. Endlich um fünf Uhr Nachmittags, nachdem sie dreimal von der
unterdessen verordneten Arznei eingenommen hatte, fühlt sie Beruhigung und
Erleichterung. Nur einmal noch, in der Nacht vom Montag auf den Dienstag
wandelt sie jene Mordlust wieder an; sie springt aber schnell aus dem Bette
und nimmt Arznei, wornach sie sich beruhigt fühlt. Seitdem ist sie von allen
ähnlichen Anwandlungen frei geblieben. Am Dienstag gestand sie Alles unter
vielen Thränen.

Der Anfall traf nicht mit der Menstruation zusammen, nicht die kleinste
veranlassende Ursache konnte aufgefunden werden. Die Arzneien bestanden
aus Potio Riveri, Brechmittel, Valeriana etc. Das Kind starb im November, die
Amme hatte es während seiner letzten Lebenszeit mit dem stillen Ausdruck des
tiefsten Schmerzes in den Armen gehalten und verfiel als es endlich gestorben
war in die grösste Verzweiflung, die indessen bald vorüberging und einer ruhi-
geren Trauer Platz machte.

(Mende, in Henke Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. 1821. 2tes Vierteljahrsheft. p. 274.)

XXIII. Die Frau eines Schuhmachers besuchte mich eines Tages wegen
eines Leidens über das sie verzweifeln will; sie zeigt alle Merkmale geistiger
und körperlicher Gesundheit, aber sie klagt unaufhörlich durch den Gedanken
belästigt zu werden, ihre vier Kinder umzubringen, welche sie doch, wie sie
sagt, mehr liebt als sich selbst. Sie fürchtet einen schlimmen Streich zu machen,
sie ist in Verzweiflung, sie will sich zum Fenster hinausstürzen; sie fühlt einen
unwiderstehlichen Drang ohne Gründe dazu zu haben und verfällt dadurch in ein
allgemeines Zittern. Gegen andere Kinder fühlt sie keine solche schlimme Gelüste,
nur ihre eigenen muss sie fliehen und aus Furcht zu unterliegen, verbirgt sie sorg-
fältig alle Werkzeuge, die ihr in die Hände fallen können. Sie steigt bestän-
dig Treppen auf und ab, um durch Bewegung und Ermüdung jene Gedanken zu
vertreiben; dieser Mordtrieb währt etwa ein Vierteljahr und hört dann von selbst
wieder auf mit der Rückkehr der Menses.

(Georget, Discussion médico-légale sur la solie. 1826.)

Für die blutdürstigen Grillen dieser Art mag allerdings *) die Ge-
danken-Entstehung nach dem Gesetze des Contrastes (§. 16.) fast den
einzigen Anknüpfungspunkt an die Vorgänge des gesunden Seelen-
lebens bieten, wiewohl es von der Thatsache, dass in dem Glück-
lichen der Gedanke der Noth und des Elends, in dem Liebenden
der Gedanke der Untreue, in dem auf steiler Höhe Steheuden der
Gedanke eines tiefen Sturzes leicht entstehen kann, noch weit ist zu
diesen, das Handeln provocirenden, fix und anhaltend nach Aussen
drängenden Vorstellungen.

Etwas deutlicher in ihrer psychologischen Motivirung sind die

*) Vgl. die Zusätze Idelers zum 4ten und 9ten Abschnitt der Schrift von
Marc.
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[204/0218] Schwermuth mit Mord- sitzt sie immer stumm, in sich gekehrt, oft mit stierem und wildem Blick und mit ungewöhnlicher Röthe im Gesichte, ohne sich, wie sie sonst immer pflegte, mit dem Kinde besonders abzugeben, es umherzutragen, es zu liebkosen und ihm zu schmeicheln. Endlich um fünf Uhr Nachmittags, nachdem sie dreimal von der unterdessen verordneten Arznei eingenommen hatte, fühlt sie Beruhigung und Erleichterung. Nur einmal noch, in der Nacht vom Montag auf den Dienstag wandelt sie jene Mordlust wieder an; sie springt aber schnell aus dem Bette und nimmt Arznei, wornach sie sich beruhigt fühlt. Seitdem ist sie von allen ähnlichen Anwandlungen frei geblieben. Am Dienstag gestand sie Alles unter vielen Thränen. Der Anfall traf nicht mit der Menstruation zusammen, nicht die kleinste veranlassende Ursache konnte aufgefunden werden. Die Arzneien bestanden aus Potio Riveri, Brechmittel, Valeriana etc. Das Kind starb im November, die Amme hatte es während seiner letzten Lebenszeit mit dem stillen Ausdruck des tiefsten Schmerzes in den Armen gehalten und verfiel als es endlich gestorben war in die grösste Verzweiflung, die indessen bald vorüberging und einer ruhi- geren Trauer Platz machte. (Mende, in Henke Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. 1821. 2tes Vierteljahrsheft. p. 274.) XXIII. Die Frau eines Schuhmachers besuchte mich eines Tages wegen eines Leidens über das sie verzweifeln will; sie zeigt alle Merkmale geistiger und körperlicher Gesundheit, aber sie klagt unaufhörlich durch den Gedanken belästigt zu werden, ihre vier Kinder umzubringen, welche sie doch, wie sie sagt, mehr liebt als sich selbst. Sie fürchtet einen schlimmen Streich zu machen, sie ist in Verzweiflung, sie will sich zum Fenster hinausstürzen; sie fühlt einen unwiderstehlichen Drang ohne Gründe dazu zu haben und verfällt dadurch in ein allgemeines Zittern. Gegen andere Kinder fühlt sie keine solche schlimme Gelüste, nur ihre eigenen muss sie fliehen und aus Furcht zu unterliegen, verbirgt sie sorg- fältig alle Werkzeuge, die ihr in die Hände fallen können. Sie steigt bestän- dig Treppen auf und ab, um durch Bewegung und Ermüdung jene Gedanken zu vertreiben; dieser Mordtrieb währt etwa ein Vierteljahr und hört dann von selbst wieder auf mit der Rückkehr der Menses. (Georget, Discussion médico-légale sur la solie. 1826.) Für die blutdürstigen Grillen dieser Art mag allerdings *) die Ge- danken-Entstehung nach dem Gesetze des Contrastes (§. 16.) fast den einzigen Anknüpfungspunkt an die Vorgänge des gesunden Seelen- lebens bieten, wiewohl es von der Thatsache, dass in dem Glück- lichen der Gedanke der Noth und des Elends, in dem Liebenden der Gedanke der Untreue, in dem auf steiler Höhe Steheuden der Gedanke eines tiefen Sturzes leicht entstehen kann, noch weit ist zu diesen, das Handeln provocirenden, fix und anhaltend nach Aussen drängenden Vorstellungen. Etwas deutlicher in ihrer psychologischen Motivirung sind die *) Vgl. die Zusätze Idelers zum 4ten und 9ten Abschnitt der Schrift von Marc.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/218>, abgerufen am 26.11.2024.