Chronische Form von Schwermuth mit Willensaufregung.
angeborne und erworbene vor; sie bestehen in einer anhaltenden oder auf jeden leichten Anlass eintretenden Stimmung von Unzufriedenheit und Bitterkeit, in einem beständig negativen Verhalten zur Aussen- welt, deren Eindrücke immer oder doch sehr leicht als widrige em- pfunden werden, und in anhaltender Willensreaction im Sinne der feindlichen zornigen Stimmung. Sie werden meist nicht oder doch sehr lange nicht als krankhafte Zustände erkannt, wenn der Kranke sein feindseliges und unbesonnenes Thun mit logisch richtigen Reden zu rechtfertigen und sich zu verstellen weiss, bis endlich einmal der Zustand sich zu einem heftigeren Manie-Anfalle steigert und damit über seine Natur der Umgebung die Augen aufgehen.
XXV. Habitueller negativer Affect mit Neigung zu Gewalt- thätigkeit, ohne Störung des Verstandes. Ein einziger Sohn, der unter den Augen einer schwachen und nachsichtigen Mutter erzogen ward, gewöhnte sich allen seinen Launen, allen Regungen eines unruhigen und hef- tigen Temperaments nachzugeben. Mit den Jahren nahm die Gewaltthätigkeit seiner Neigungen zu, und das Geld, das man ihm verschwenderisch zu Gebot stellte, schien ihm jedes Hinderniss seiner höchsten Willensmeinungen weg- zuräumen. Findet er wirklichen Widerstand, so wird er heftig und auf- geregt; er greift keck an, sucht mit Gewalt zu herrschen und lebt beständig in Streit und Händeln. Aergert er sich über irgend ein Thier, einen Hund, ein Schaf, ein Pferd, so bringt er es auf der Stelle um; nimmt er an einer Gesellschaft, einem Feste Antheil, so erzürnt er sich und fängt eine Schlä- gerei an. Andererseits ganz vernünftig, wenn er ruhig ist, und Besitzer eines bedeutenden Gutes, verwaltet er dieses mit richtigem Verstand, erfüllt seine son- stigen Pflichten in der Gesellschaft und erweist den Armen manche Wohlthaten. Seine unglückliche Händelsucht hatte ihm bisher nur Wunden, Processe, Geld- strafen eingetragen, bis ein öffentlich gewordener Unfall seinem gewaltthätigen Treiben ein Ende machte: er gerieth eines Tags in Zorn gegen eine Frau, welche ihn mit Worten angriff, und warf sie in einen Brunnen. Die Sache kam vor Gericht, und auf eine Menge von Zeugenaussagen, welche die Verirrungen seiner Zornsucht schilderten, ward eine Einsperrung im Irrenhause von Bicetre über ihn verhängt. (Pinel, traite de l'alienation. p. 159.)
Chronische Form von Schwermuth mit Willensaufregung.
angeborne und erworbene vor; sie bestehen in einer anhaltenden oder auf jeden leichten Anlass eintretenden Stimmung von Unzufriedenheit und Bitterkeit, in einem beständig negativen Verhalten zur Aussen- welt, deren Eindrücke immer oder doch sehr leicht als widrige em- pfunden werden, und in anhaltender Willensreaction im Sinne der feindlichen zornigen Stimmung. Sie werden meist nicht oder doch sehr lange nicht als krankhafte Zustände erkannt, wenn der Kranke sein feindseliges und unbesonnenes Thun mit logisch richtigen Reden zu rechtfertigen und sich zu verstellen weiss, bis endlich einmal der Zustand sich zu einem heftigeren Manie-Anfalle steigert und damit über seine Natur der Umgebung die Augen aufgehen.
XXV. Habitueller negativer Affect mit Neigung zu Gewalt- thätigkeit, ohne Störung des Verstandes. Ein einziger Sohn, der unter den Augen einer schwachen und nachsichtigen Mutter erzogen ward, gewöhnte sich allen seinen Launen, allen Regungen eines unruhigen und hef- tigen Temperaments nachzugeben. Mit den Jahren nahm die Gewaltthätigkeit seiner Neigungen zu, und das Geld, das man ihm verschwenderisch zu Gebot stellte, schien ihm jedes Hinderniss seiner höchsten Willensmeinungen weg- zuräumen. Findet er wirklichen Widerstand, so wird er heftig und auf- geregt; er greift keck an, sucht mit Gewalt zu herrschen und lebt beständig in Streit und Händeln. Aergert er sich über irgend ein Thier, einen Hund, ein Schaf, ein Pferd, so bringt er es auf der Stelle um; nimmt er an einer Gesellschaft, einem Feste Antheil, so erzürnt er sich und fängt eine Schlä- gerei an. Andererseits ganz vernünftig, wenn er ruhig ist, und Besitzer eines bedeutenden Gutes, verwaltet er dieses mit richtigem Verstand, erfüllt seine son- stigen Pflichten in der Gesellschaft und erweist den Armen manche Wohlthaten. Seine unglückliche Händelsucht hatte ihm bisher nur Wunden, Processe, Geld- strafen eingetragen, bis ein öffentlich gewordener Unfall seinem gewaltthätigen Treiben ein Ende machte: er gerieth eines Tags in Zorn gegen eine Frau, welche ihn mit Worten angriff, und warf sie in einen Brunnen. Die Sache kam vor Gericht, und auf eine Menge von Zeugenaussagen, welche die Verirrungen seiner Zornsucht schilderten, ward eine Einsperrung im Irrenhause von Bicêtre über ihn verhängt. (Pinel, traité de l’alienation. p. 159.)
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Chronische Form von Schwermuth mit Willensaufregung.
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und Bitterkeit, in einem beständig negativen Verhalten zur Aussen-
welt, deren Eindrücke immer oder doch sehr leicht als widrige em-
pfunden werden, und in anhaltender Willensreaction im Sinne der
feindlichen zornigen Stimmung. Sie werden meist nicht oder doch
sehr lange nicht als krankhafte Zustände erkannt, wenn der Kranke
sein feindseliges und unbesonnenes Thun mit logisch richtigen Reden
zu rechtfertigen und sich zu verstellen weiss, bis endlich einmal der
Zustand sich zu einem heftigeren Manie-Anfalle steigert und damit
über seine Natur der Umgebung die Augen aufgehen.
XXV. Habitueller negativer Affect mit Neigung zu Gewalt-
thätigkeit, ohne Störung des Verstandes. Ein einziger Sohn, der
unter den Augen einer schwachen und nachsichtigen Mutter erzogen ward,
gewöhnte sich allen seinen Launen, allen Regungen eines unruhigen und hef-
tigen Temperaments nachzugeben. Mit den Jahren nahm die Gewaltthätigkeit
seiner Neigungen zu, und das Geld, das man ihm verschwenderisch zu Gebot
stellte, schien ihm jedes Hinderniss seiner höchsten Willensmeinungen weg-
zuräumen. Findet er wirklichen Widerstand, so wird er heftig und auf-
geregt; er greift keck an, sucht mit Gewalt zu herrschen und lebt beständig
in Streit und Händeln. Aergert er sich über irgend ein Thier, einen Hund,
ein Schaf, ein Pferd, so bringt er es auf der Stelle um; nimmt er an
einer Gesellschaft, einem Feste Antheil, so erzürnt er sich und fängt eine Schlä-
gerei an. Andererseits ganz vernünftig, wenn er ruhig ist, und Besitzer eines
bedeutenden Gutes, verwaltet er dieses mit richtigem Verstand, erfüllt seine son-
stigen Pflichten in der Gesellschaft und erweist den Armen manche Wohlthaten.
Seine unglückliche Händelsucht hatte ihm bisher nur Wunden, Processe, Geld-
strafen eingetragen, bis ein öffentlich gewordener Unfall seinem gewaltthätigen
Treiben ein Ende machte: er gerieth eines Tags in Zorn gegen eine Frau,
welche ihn mit Worten angriff, und warf sie in einen Brunnen. Die Sache kam
vor Gericht, und auf eine Menge von Zeugenaussagen, welche die Verirrungen
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über ihn verhängt. (Pinel, traité de l’alienation. p. 159.)
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/222>, abgerufen am 30.07.2024.
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