Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Tobsucht.
Art und Weise der Gehirnerkrankung erklären kann. So lange es noch bei
dieser blossen Aenderung der Stimmung bleibt, spielt der Process auf einem re-
lativ äusseren, peripherischen Gebiete des Seelenlebens, wobei der Kranke oft
das Bewusstsein der ihm, d. h. seinem noch unbetheiligten Ich aufgedrungenen,
ihm zugemutheten, von ihm nicht zu hindernden, psychischen Anomalieen hat, ein
Bewusstsein, mit dem er gleichsam gegen die einbrechende Tobsucht protestirt.

Ueberhaupt bedarf es zum Zustandekommen der Tobsucht gar nicht immer
eines leidenschaftlichen oder affectiven (schwermüthigen) Anstosses. Abgesehen
von den durch acute Meningitis hervorgerufenen maniacalischen Zuständen, sieht
man auch in andern Delirien, z. B. der Typhuskranken, mit der weiterschreiten-
den Gehirnstörung die äussere Unruhe, das Fort- und Hinauswollen, die moto-
rischen Impulse zuweilen allerdings aus zu Grunde liegender Angst oder aus
Hallucinationen, anderemale aber ohne alle affective Anlässe auftreten, als ob mit
dem tieferen Zerfall des psychischen Lebens die Bewegungsantriebe anfiengen,
von selbst abzulaufen.

Aehnlich scheint es sich in manchen Fällen chronischer Tobsucht zu ver-
halten. Doch zeigt die Beobachtung deutlich, wie in dem vorausgegangenen Be-
fallensein des Gehirns in der Weise eines psychischen Schmerzzustandes, ein
zur Manie im höchsten Grade disponirendes Moment liegen muss. Das Entstehen
der Manie aus der Schwermuth ist die Regel, und schon wurde der merkwürdi-
gen Fälle Erwähnung gethan, wo nach längst erfolgter Genesung von Schwer-
muth der zweite Anfall von Irresein sogleich in der Form der Manie ausbricht. *)


Erstes Capitel.
Die Tobsucht.
§. 109.

Wie eben bemerkt, ist es selten, dass die Tobsucht ohne alle
vorhergegangene Erscheinungen andern Irreseins auftritt. Längst sind
in der Mehrzahl der Fälle die Neigungen, die Affecte, die Gewohn-
heiten des Kranken verändert, und zwar gewöhnlich in der bei der
Schwermuth erörterten Weise. Dieses vorausgehende Stadium melan-
cholicum, das übrigens zuweilen sehr kurzdauernd und mässig sein
kann, ist es, welches man auch schon die Incubations-Periode der
Tobsucht genannt hat. Der Schwermüthige zeigt allmählig grössere
äussere Unruhe, es ist ihm nirgends wohl, er läuft herum, irrt wohl
im Freien, auf dem Felde umher, oder er geht bei Freunden und
Bekannten, oft an weit entfernten Orten, herum, mit der dunkeln Em-
pfindung, Hülfe zu suchen. Er äussert sein trauriges Delirium, wo

*) S. z. B. den neunten Fall von Jakobi (Hauptformen etc.); Zeller und wir
selbst haben dergleichen Fälle beobachtet.

Die Tobsucht.
Art und Weise der Gehirnerkrankung erklären kann. So lange es noch bei
dieser blossen Aenderung der Stimmung bleibt, spielt der Process auf einem re-
lativ äusseren, peripherischen Gebiete des Seelenlebens, wobei der Kranke oft
das Bewusstsein der ihm, d. h. seinem noch unbetheiligten Ich aufgedrungenen,
ihm zugemutheten, von ihm nicht zu hindernden, psychischen Anomalieen hat, ein
Bewusstsein, mit dem er gleichsam gegen die einbrechende Tobsucht protestirt.

Ueberhaupt bedarf es zum Zustandekommen der Tobsucht gar nicht immer
eines leidenschaftlichen oder affectiven (schwermüthigen) Anstosses. Abgesehen
von den durch acute Meningitis hervorgerufenen maniacalischen Zuständen, sieht
man auch in andern Delirien, z. B. der Typhuskranken, mit der weiterschreiten-
den Gehirnstörung die äussere Unruhe, das Fort- und Hinauswollen, die moto-
rischen Impulse zuweilen allerdings aus zu Grunde liegender Angst oder aus
Hallucinationen, anderemale aber ohne alle affective Anlässe auftreten, als ob mit
dem tieferen Zerfall des psychischen Lebens die Bewegungsantriebe anfiengen,
von selbst abzulaufen.

Aehnlich scheint es sich in manchen Fällen chronischer Tobsucht zu ver-
halten. Doch zeigt die Beobachtung deutlich, wie in dem vorausgegangenen Be-
fallensein des Gehirns in der Weise eines psychischen Schmerzzustandes, ein
zur Manie im höchsten Grade disponirendes Moment liegen muss. Das Entstehen
der Manie aus der Schwermuth ist die Regel, und schon wurde der merkwürdi-
gen Fälle Erwähnung gethan, wo nach längst erfolgter Genesung von Schwer-
muth der zweite Anfall von Irresein sogleich in der Form der Manie ausbricht. *)


Erstes Capitel.
Die Tobsucht.
§. 109.

Wie eben bemerkt, ist es selten, dass die Tobsucht ohne alle
vorhergegangene Erscheinungen andern Irreseins auftritt. Längst sind
in der Mehrzahl der Fälle die Neigungen, die Affecte, die Gewohn-
heiten des Kranken verändert, und zwar gewöhnlich in der bei der
Schwermuth erörterten Weise. Dieses vorausgehende Stadium melan-
cholicum, das übrigens zuweilen sehr kurzdauernd und mässig sein
kann, ist es, welches man auch schon die Incubations-Periode der
Tobsucht genannt hat. Der Schwermüthige zeigt allmählig grössere
äussere Unruhe, es ist ihm nirgends wohl, er läuft herum, irrt wohl
im Freien, auf dem Felde umher, oder er geht bei Freunden und
Bekannten, oft an weit entfernten Orten, herum, mit der dunkeln Em-
pfindung, Hülfe zu suchen. Er äussert sein trauriges Delirium, wo

*) S. z. B. den neunten Fall von Jakobi (Hauptformen etc.); Zeller und wir
selbst haben dergleichen Fälle beobachtet.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0228" n="214"/><fw place="top" type="header">Die Tobsucht.</fw><lb/>
Art und Weise der Gehirnerkrankung erklären kann. So lange es noch bei<lb/>
dieser blossen Aenderung der Stimmung bleibt, spielt der Process auf einem re-<lb/>
lativ äusseren, peripherischen Gebiete des Seelenlebens, wobei der Kranke oft<lb/>
das Bewusstsein der ihm, d. h. seinem noch unbetheiligten Ich aufgedrungenen,<lb/>
ihm zugemutheten, von ihm nicht zu hindernden, psychischen Anomalieen hat, ein<lb/>
Bewusstsein, mit dem er gleichsam gegen die einbrechende Tobsucht protestirt.</p><lb/>
            <p>Ueberhaupt bedarf es zum Zustandekommen der Tobsucht gar nicht immer<lb/>
eines leidenschaftlichen oder affectiven (schwermüthigen) Anstosses. Abgesehen<lb/>
von den durch acute Meningitis hervorgerufenen maniacalischen Zuständen, sieht<lb/>
man auch in andern Delirien, z. B. der Typhuskranken, mit der weiterschreiten-<lb/>
den Gehirnstörung die äussere Unruhe, das Fort- und Hinauswollen, die moto-<lb/>
rischen Impulse zuweilen allerdings aus zu Grunde liegender Angst oder aus<lb/>
Hallucinationen, anderemale aber ohne alle affective Anlässe auftreten, als ob mit<lb/>
dem tieferen Zerfall des psychischen Lebens die Bewegungsantriebe anfiengen,<lb/>
von selbst abzulaufen.</p><lb/>
            <p>Aehnlich scheint es sich in manchen Fällen chronischer Tobsucht zu ver-<lb/>
halten. Doch zeigt die Beobachtung deutlich, wie in dem vorausgegangenen Be-<lb/>
fallensein des Gehirns in der Weise eines psychischen Schmerzzustandes, ein<lb/>
zur Manie im höchsten Grade disponirendes Moment liegen muss. Das Entstehen<lb/>
der Manie aus der Schwermuth ist die Regel, und schon wurde der merkwürdi-<lb/>
gen Fälle Erwähnung gethan, wo nach längst erfolgter Genesung von Schwer-<lb/>
muth der zweite Anfall von Irresein sogleich in der Form der Manie ausbricht. <note place="foot" n="*)">S. z. B. den neunten Fall von Jakobi (Hauptformen etc.); Zeller und wir<lb/>
selbst haben dergleichen Fälle beobachtet.</note></p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#b">Erstes Capitel</hi>.<lb/><hi rendition="#i">Die Tobsucht</hi>.</head><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 109.</head><lb/>
              <p>Wie eben bemerkt, ist es selten, dass die Tobsucht ohne alle<lb/>
vorhergegangene Erscheinungen andern Irreseins auftritt. Längst sind<lb/>
in der Mehrzahl der Fälle die Neigungen, die Affecte, die Gewohn-<lb/>
heiten des Kranken verändert, und zwar gewöhnlich in der bei der<lb/>
Schwermuth erörterten Weise. Dieses vorausgehende Stadium melan-<lb/>
cholicum, das übrigens zuweilen sehr kurzdauernd und mässig sein<lb/>
kann, ist es, welches man auch schon die Incubations-Periode der<lb/>
Tobsucht genannt hat. Der Schwermüthige zeigt allmählig grössere<lb/>
äussere Unruhe, es ist ihm nirgends wohl, er läuft herum, irrt wohl<lb/>
im Freien, auf dem Felde umher, oder er geht bei Freunden und<lb/>
Bekannten, oft an weit entfernten Orten, herum, mit der dunkeln Em-<lb/>
pfindung, Hülfe zu suchen. Er äussert sein trauriges Delirium, wo<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[214/0228] Die Tobsucht. Art und Weise der Gehirnerkrankung erklären kann. So lange es noch bei dieser blossen Aenderung der Stimmung bleibt, spielt der Process auf einem re- lativ äusseren, peripherischen Gebiete des Seelenlebens, wobei der Kranke oft das Bewusstsein der ihm, d. h. seinem noch unbetheiligten Ich aufgedrungenen, ihm zugemutheten, von ihm nicht zu hindernden, psychischen Anomalieen hat, ein Bewusstsein, mit dem er gleichsam gegen die einbrechende Tobsucht protestirt. Ueberhaupt bedarf es zum Zustandekommen der Tobsucht gar nicht immer eines leidenschaftlichen oder affectiven (schwermüthigen) Anstosses. Abgesehen von den durch acute Meningitis hervorgerufenen maniacalischen Zuständen, sieht man auch in andern Delirien, z. B. der Typhuskranken, mit der weiterschreiten- den Gehirnstörung die äussere Unruhe, das Fort- und Hinauswollen, die moto- rischen Impulse zuweilen allerdings aus zu Grunde liegender Angst oder aus Hallucinationen, anderemale aber ohne alle affective Anlässe auftreten, als ob mit dem tieferen Zerfall des psychischen Lebens die Bewegungsantriebe anfiengen, von selbst abzulaufen. Aehnlich scheint es sich in manchen Fällen chronischer Tobsucht zu ver- halten. Doch zeigt die Beobachtung deutlich, wie in dem vorausgegangenen Be- fallensein des Gehirns in der Weise eines psychischen Schmerzzustandes, ein zur Manie im höchsten Grade disponirendes Moment liegen muss. Das Entstehen der Manie aus der Schwermuth ist die Regel, und schon wurde der merkwürdi- gen Fälle Erwähnung gethan, wo nach längst erfolgter Genesung von Schwer- muth der zweite Anfall von Irresein sogleich in der Form der Manie ausbricht. *) Erstes Capitel. Die Tobsucht. §. 109. Wie eben bemerkt, ist es selten, dass die Tobsucht ohne alle vorhergegangene Erscheinungen andern Irreseins auftritt. Längst sind in der Mehrzahl der Fälle die Neigungen, die Affecte, die Gewohn- heiten des Kranken verändert, und zwar gewöhnlich in der bei der Schwermuth erörterten Weise. Dieses vorausgehende Stadium melan- cholicum, das übrigens zuweilen sehr kurzdauernd und mässig sein kann, ist es, welches man auch schon die Incubations-Periode der Tobsucht genannt hat. Der Schwermüthige zeigt allmählig grössere äussere Unruhe, es ist ihm nirgends wohl, er läuft herum, irrt wohl im Freien, auf dem Felde umher, oder er geht bei Freunden und Bekannten, oft an weit entfernten Orten, herum, mit der dunkeln Em- pfindung, Hülfe zu suchen. Er äussert sein trauriges Delirium, wo *) S. z. B. den neunten Fall von Jakobi (Hauptformen etc.); Zeller und wir selbst haben dergleichen Fälle beobachtet.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/228
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/228>, abgerufen am 26.11.2024.