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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Symptomatologie der Tobsucht.
motorischen Seite des Seelenlebens äussert sich zunächst in dieser
Sphäre als ein hoher Grad von psychischer Aufgeregtheit mit un-
ruhigem, rastlosem, ungestümem Thun und Treiben. Der Trieb zu
anhaltender Bewegung und Handlung, die Nothwendigkeit, allen In-
halt der psychischen Vorgänge augenblicklich und hastig nach aussen
zu werfen, treibt bald bloss zu harmlosem Herumtreiben, Tanzen,
Sprechen, Singen, Schreien, Lachen, Weinen etc., bald zu rastloser,
unzweckmässiger Geschäftigkeit, welche nach momentanen Einfällen
plötzlich und ungeduldig alles Aeussere verändern will, bald zu der
Neigung, alles Lebendige und Leblose zu verletzen, welche zu Aus-
brüchen des blindesten Wüthens und Rasens steigen kann. Während
aber dieses dreiste und gewaltthätige Streben sich an Alles wagt,
mit Heftigkeit gegen jedes Hinderniss anstürmt und ohne Erwägung
der Folgen sich in zwecklosen und ausschweifenden Handlungen Luft
macht, zeigt sich doch bei vielen Kranken eine gewisse Feigheit bei
energischem und bestimmtem Entgegentreten, oder richtiger ein Zu-
stand von Angst, der zuweilen aus der früheren Periode zurückge-
blieben ist, und wie er zur Tobsucht Anlass gab, sie dann auch noch
fortzuerhalten scheint. Dabei keinerlei gesunde Handlungen, kein Ver-
folgen vernünftiger Lebenszwecke, keine Sorge für die Familie oder
für die eigene Existenz, keine Möglichkeit, sich äusserlich für ver-
ständige Zwecke bestimmen zu lassen; Gleichgültigkeit gegen Alles,
was nicht gerade mit der leidenschaftlichen Erregtheit in Conflict
kommt, völlige Vernachlässigung des Aeusseren, Aufhören aller Rück-
sichten der Decenz, der Schamhaftigkeit und Reinlichkeit.

Der concrete psychische Inhalt, welcher sich mit solchem Unge-
stüm äussert, besteht entweder nur in gewissen, nicht selten schnell
wechselnden Stimmungen oder in gewissen stehender gewordenen Ge-
fühlen und dunkeln Vorstellungsmassen, welche sich als einzelne geson-
derte Triebe darstellen. So kann durch krankhafte Steigerung der sexuellen
Empfindungen und Gefühle, die wieder auf einem Localleiden, einem
Pruritus Pudendi, einer Krankheit des ovariums etc. beruhen kann,
eine krankhafte Lascivität mit schamloser Nacktheit hervortreten und in
brutalster Weise Befriedigung suchen. Es kann die Lust am Besitze
als eine anhaltende Neigung, alles mögliche zu sammeln und auf-
zuhäufen, als krankhafte Stehlsucht sich äussern. Es kann die Lust
am lauten Sprechen, an der rhythmischen Gestaltung der Rede, am
Lärm, an geistigen Getränken, an Befriedigung des Speisebedürfnisses,
eine besondere Lust an Blutvergiessen etc. sich in jener ungestümen
und gewaltthätigen Weise äussern wollen, und es ergeben sich dem-

Symptomatologie der Tobsucht.
motorischen Seite des Seelenlebens äussert sich zunächst in dieser
Sphäre als ein hoher Grad von psychischer Aufgeregtheit mit un-
ruhigem, rastlosem, ungestümem Thun und Treiben. Der Trieb zu
anhaltender Bewegung und Handlung, die Nothwendigkeit, allen In-
halt der psychischen Vorgänge augenblicklich und hastig nach aussen
zu werfen, treibt bald bloss zu harmlosem Herumtreiben, Tanzen,
Sprechen, Singen, Schreien, Lachen, Weinen etc., bald zu rastloser,
unzweckmässiger Geschäftigkeit, welche nach momentanen Einfällen
plötzlich und ungeduldig alles Aeussere verändern will, bald zu der
Neigung, alles Lebendige und Leblose zu verletzen, welche zu Aus-
brüchen des blindesten Wüthens und Rasens steigen kann. Während
aber dieses dreiste und gewaltthätige Streben sich an Alles wagt,
mit Heftigkeit gegen jedes Hinderniss anstürmt und ohne Erwägung
der Folgen sich in zwecklosen und ausschweifenden Handlungen Luft
macht, zeigt sich doch bei vielen Kranken eine gewisse Feigheit bei
energischem und bestimmtem Entgegentreten, oder richtiger ein Zu-
stand von Angst, der zuweilen aus der früheren Periode zurückge-
blieben ist, und wie er zur Tobsucht Anlass gab, sie dann auch noch
fortzuerhalten scheint. Dabei keinerlei gesunde Handlungen, kein Ver-
folgen vernünftiger Lebenszwecke, keine Sorge für die Familie oder
für die eigene Existenz, keine Möglichkeit, sich äusserlich für ver-
ständige Zwecke bestimmen zu lassen; Gleichgültigkeit gegen Alles,
was nicht gerade mit der leidenschaftlichen Erregtheit in Conflict
kommt, völlige Vernachlässigung des Aeusseren, Aufhören aller Rück-
sichten der Decenz, der Schamhaftigkeit und Reinlichkeit.

Der concrete psychische Inhalt, welcher sich mit solchem Unge-
stüm äussert, besteht entweder nur in gewissen, nicht selten schnell
wechselnden Stimmungen oder in gewissen stehender gewordenen Ge-
fühlen und dunkeln Vorstellungsmassen, welche sich als einzelne geson-
derte Triebe darstellen. So kann durch krankhafte Steigerung der sexuellen
Empfindungen und Gefühle, die wieder auf einem Localleiden, einem
Pruritus Pudendi, einer Krankheit des ovariums etc. beruhen kann,
eine krankhafte Lascivität mit schamloser Nacktheit hervortreten und in
brutalster Weise Befriedigung suchen. Es kann die Lust am Besitze
als eine anhaltende Neigung, alles mögliche zu sammeln und auf-
zuhäufen, als krankhafte Stehlsucht sich äussern. Es kann die Lust
am lauten Sprechen, an der rhythmischen Gestaltung der Rede, am
Lärm, an geistigen Getränken, an Befriedigung des Speisebedürfnisses,
eine besondere Lust an Blutvergiessen etc. sich in jener ungestümen
und gewaltthätigen Weise äussern wollen, und es ergeben sich dem-

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[216/0230] Symptomatologie der Tobsucht. motorischen Seite des Seelenlebens äussert sich zunächst in dieser Sphäre als ein hoher Grad von psychischer Aufgeregtheit mit un- ruhigem, rastlosem, ungestümem Thun und Treiben. Der Trieb zu anhaltender Bewegung und Handlung, die Nothwendigkeit, allen In- halt der psychischen Vorgänge augenblicklich und hastig nach aussen zu werfen, treibt bald bloss zu harmlosem Herumtreiben, Tanzen, Sprechen, Singen, Schreien, Lachen, Weinen etc., bald zu rastloser, unzweckmässiger Geschäftigkeit, welche nach momentanen Einfällen plötzlich und ungeduldig alles Aeussere verändern will, bald zu der Neigung, alles Lebendige und Leblose zu verletzen, welche zu Aus- brüchen des blindesten Wüthens und Rasens steigen kann. Während aber dieses dreiste und gewaltthätige Streben sich an Alles wagt, mit Heftigkeit gegen jedes Hinderniss anstürmt und ohne Erwägung der Folgen sich in zwecklosen und ausschweifenden Handlungen Luft macht, zeigt sich doch bei vielen Kranken eine gewisse Feigheit bei energischem und bestimmtem Entgegentreten, oder richtiger ein Zu- stand von Angst, der zuweilen aus der früheren Periode zurückge- blieben ist, und wie er zur Tobsucht Anlass gab, sie dann auch noch fortzuerhalten scheint. Dabei keinerlei gesunde Handlungen, kein Ver- folgen vernünftiger Lebenszwecke, keine Sorge für die Familie oder für die eigene Existenz, keine Möglichkeit, sich äusserlich für ver- ständige Zwecke bestimmen zu lassen; Gleichgültigkeit gegen Alles, was nicht gerade mit der leidenschaftlichen Erregtheit in Conflict kommt, völlige Vernachlässigung des Aeusseren, Aufhören aller Rück- sichten der Decenz, der Schamhaftigkeit und Reinlichkeit. Der concrete psychische Inhalt, welcher sich mit solchem Unge- stüm äussert, besteht entweder nur in gewissen, nicht selten schnell wechselnden Stimmungen oder in gewissen stehender gewordenen Ge- fühlen und dunkeln Vorstellungsmassen, welche sich als einzelne geson- derte Triebe darstellen. So kann durch krankhafte Steigerung der sexuellen Empfindungen und Gefühle, die wieder auf einem Localleiden, einem Pruritus Pudendi, einer Krankheit des ovariums etc. beruhen kann, eine krankhafte Lascivität mit schamloser Nacktheit hervortreten und in brutalster Weise Befriedigung suchen. Es kann die Lust am Besitze als eine anhaltende Neigung, alles mögliche zu sammeln und auf- zuhäufen, als krankhafte Stehlsucht sich äussern. Es kann die Lust am lauten Sprechen, an der rhythmischen Gestaltung der Rede, am Lärm, an geistigen Getränken, an Befriedigung des Speisebedürfnisses, eine besondere Lust an Blutvergiessen etc. sich in jener ungestümen und gewaltthätigen Weise äussern wollen, und es ergeben sich dem-

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/230>, abgerufen am 27.11.2024.