Als eine zweite wichtige Complication des Irreseins ist die Epilepsie zu erwähnen. Die vielfältigen Berührungs- und Ueber- gangs-Punkte der motorischen Krampfformen, welche man unter die- sem Namen begreift, zu den tieferen Störungen der psychischen Thätigkeit zeigen sich theils in den Erscheinungen vor, während und nach den epileptischen Anfällen, theils in dem ganzen Krankheits- verlauf der Epilepsie.
Auffallendere psychische Störungen kommen nicht selten vor dem Anfalle vor, bald eine rauschartige Verwirrung und Umneblung des Bewusstseins, bald tiefe, traurige Verstimmung, höchst peinliche, ärgerliche Laune, bald unmittelbar vor dem Anfall heftige Hallucinationen aller Sinne.
Während des Anfalls ist in den gewöhnlichen Fällen das psy- chische Leben in der Bewusstlosigkeit völlig untergegangen. We- nigstens erinnert sich der Kranke keines psychischen Actes aus dieser Zeit, wenn gleich jener Gesichts-Ausdruck von starrem, entsetztem Staunen, den der Kranke so oft zeigt, den Gedanken eines schreck- lichen Seelenleidens erwecken könnte. Es gibt aber wirklich epileptische Zustände, wo sich das Verhalten der psychischen Störung während der Anfälle constatiren lässt. Es kommen nemlich, von vielen guten Beobachtern notirt, theils als Vorläufer der intermittirenden Krämpfe, theils abwechselnd mit solchen, Anfälle vor, welche entweder ganz ohne oder doch mit sehr beschränkter Störung der Bewegung (z. B. Zuckungen einzelner Gesichtsmuskeln, Schlingbewegungen *), Relaxation der Arm-Muskeln etc.) hauptsächlich in einer psychischen Anomalie bestehen. Es ist ein plötzliches Verdämmern oder Aufhören des Bewusstseins der Aussenwelt; die Augen werden starr, der Kranke murmelt, wenn er im Gespräche war, zuweilen das letztvorgebrachte Wort weiter; dann kommt er wieder zu sich, bemerkt seine Geistes- abwesenheit, versucht zuweilen sie zu verbergen, oder fährt im Ge- spräche an dem Wort, wo er stehen geblieben, fort. Solche Kranke haben nachher ihren Zustand beschrieben als einen grossen geistigen Schmerz mit tiefer Verworrenheit und Depression, wie in einem schweren Traum; sie hatten ein Gefühl von Gewissensangst oder wie
*) Diess von Falret besonders beobachtet. S. Billod, Symptomatologie de l'epilepsie. Annales medico-psychol. 1843. II. p. 407.
Die Epilepsie als Complication des Irreseins.
§. 133.
Als eine zweite wichtige Complication des Irreseins ist die Epilepsie zu erwähnen. Die vielfältigen Berührungs- und Ueber- gangs-Punkte der motorischen Krampfformen, welche man unter die- sem Namen begreift, zu den tieferen Störungen der psychischen Thätigkeit zeigen sich theils in den Erscheinungen vor, während und nach den epileptischen Anfällen, theils in dem ganzen Krankheits- verlauf der Epilepsie.
Auffallendere psychische Störungen kommen nicht selten vor dem Anfalle vor, bald eine rauschartige Verwirrung und Umneblung des Bewusstseins, bald tiefe, traurige Verstimmung, höchst peinliche, ärgerliche Laune, bald unmittelbar vor dem Anfall heftige Hallucinationen aller Sinne.
Während des Anfalls ist in den gewöhnlichen Fällen das psy- chische Leben in der Bewusstlosigkeit völlig untergegangen. We- nigstens erinnert sich der Kranke keines psychischen Actes aus dieser Zeit, wenn gleich jener Gesichts-Ausdruck von starrem, entsetztem Staunen, den der Kranke so oft zeigt, den Gedanken eines schreck- lichen Seelenleidens erwecken könnte. Es gibt aber wirklich epileptische Zustände, wo sich das Verhalten der psychischen Störung während der Anfälle constatiren lässt. Es kommen nemlich, von vielen guten Beobachtern notirt, theils als Vorläufer der intermittirenden Krämpfe, theils abwechselnd mit solchen, Anfälle vor, welche entweder ganz ohne oder doch mit sehr beschränkter Störung der Bewegung (z. B. Zuckungen einzelner Gesichtsmuskeln, Schlingbewegungen *), Relaxation der Arm-Muskeln etc.) hauptsächlich in einer psychischen Anomalie bestehen. Es ist ein plötzliches Verdämmern oder Aufhören des Bewusstseins der Aussenwelt; die Augen werden starr, der Kranke murmelt, wenn er im Gespräche war, zuweilen das letztvorgebrachte Wort weiter; dann kommt er wieder zu sich, bemerkt seine Geistes- abwesenheit, versucht zuweilen sie zu verbergen, oder fährt im Ge- spräche an dem Wort, wo er stehen geblieben, fort. Solche Kranke haben nachher ihren Zustand beschrieben als einen grossen geistigen Schmerz mit tiefer Verworrenheit und Depression, wie in einem schweren Traum; sie hatten ein Gefühl von Gewissensangst oder wie
*) Diess von Falret besonders beobachtet. S. Billod, Symptomatologie de l’épilépsie. Annales medico-psychol. 1843. II. p. 407.
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Die Epilepsie als Complication des Irreseins.
§. 133.
Als eine zweite wichtige Complication des Irreseins ist die
Epilepsie zu erwähnen. Die vielfältigen Berührungs- und Ueber-
gangs-Punkte der motorischen Krampfformen, welche man unter die-
sem Namen begreift, zu den tieferen Störungen der psychischen
Thätigkeit zeigen sich theils in den Erscheinungen vor, während und
nach den epileptischen Anfällen, theils in dem ganzen Krankheits-
verlauf der Epilepsie.
Auffallendere psychische Störungen kommen nicht selten vor
dem Anfalle vor, bald eine rauschartige Verwirrung und Umneblung
des Bewusstseins, bald tiefe, traurige Verstimmung, höchst peinliche,
ärgerliche Laune, bald unmittelbar vor dem Anfall heftige Hallucinationen
aller Sinne.
Während des Anfalls ist in den gewöhnlichen Fällen das psy-
chische Leben in der Bewusstlosigkeit völlig untergegangen. We-
nigstens erinnert sich der Kranke keines psychischen Actes aus dieser
Zeit, wenn gleich jener Gesichts-Ausdruck von starrem, entsetztem
Staunen, den der Kranke so oft zeigt, den Gedanken eines schreck-
lichen Seelenleidens erwecken könnte. Es gibt aber wirklich epileptische
Zustände, wo sich das Verhalten der psychischen Störung während
der Anfälle constatiren lässt. Es kommen nemlich, von vielen guten
Beobachtern notirt, theils als Vorläufer der intermittirenden Krämpfe,
theils abwechselnd mit solchen, Anfälle vor, welche entweder ganz
ohne oder doch mit sehr beschränkter Störung der Bewegung (z. B.
Zuckungen einzelner Gesichtsmuskeln, Schlingbewegungen *), Relaxation
der Arm-Muskeln etc.) hauptsächlich in einer psychischen Anomalie
bestehen. Es ist ein plötzliches Verdämmern oder Aufhören des
Bewusstseins der Aussenwelt; die Augen werden starr, der Kranke
murmelt, wenn er im Gespräche war, zuweilen das letztvorgebrachte
Wort weiter; dann kommt er wieder zu sich, bemerkt seine Geistes-
abwesenheit, versucht zuweilen sie zu verbergen, oder fährt im Ge-
spräche an dem Wort, wo er stehen geblieben, fort. Solche Kranke
haben nachher ihren Zustand beschrieben als einen grossen geistigen
Schmerz mit tiefer Verworrenheit und Depression, wie in einem
schweren Traum; sie hatten ein Gefühl von Gewissensangst oder wie
*) Diess von Falret besonders beobachtet. S. Billod, Symptomatologie de
l’épilépsie. Annales medico-psychol. 1843. II. p. 407.
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/301>, abgerufen am 27.11.2024.
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