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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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anatomischer Veränderungen.
dass dieselben nach den übereinstimmenden Beobachtungen der neueren,
sorgfältigen Beobachter immerhin die entschiedene Minderzahl bilden.
Man muss ihre Zahl nicht nach den Berichten derjenigen Irrenärzte
schätzen, welche, vortreffliche Administratoren oder Moralisten, keine
Zeit gehabt haben, sich mit dem Bau des Gehirns und seinen patho-
logischen Veränderungen bekannt zu machen, welche das Gehirn nur
grob, mit Messer und Gabel zu zerschneiden wissen und freilich
immer Nichts finden. Man muss bedenken, wie leicht manche feinere,
aber desshalb doch sehr wichtige Alterationen z. B. die feinen pseu-
domembranösen Anflüge auf der Innenfläche der Dura, kleine Schädel-
osteophyte, Nüancen der Färbung und Consistenz der grauen Sub-
stanz etc. einer nur gewöhnlichen Aufmerksamkeit entgehen, und man
darf die urtheilenden Berichte über die normale oder anomale Be-
schaffenheit des Organs überhaupt nur von Seiten derer annehmen,
welche durch den ganzen Geist ihrer Schriften zeigen, dass sie mit
der pathologischen Anatomie vertraut sind, dass sie dieselbe über-
haupt anerkennen und dass sie wissen, was man zu suchen, auf
was man zu achten hat. Je mehr in neuester Zeit durch Auffindung
noch unbekannter anatomischer Störungen im Gehirn und durch eine
genauere anatomische und logische Zergliederung der früher bekannten
(Rokitansky, Durand-Fardel, Bennet, Kasloff etc.) die pathologische Ana-
tomie des Gehirns gefördert worden ist, um so sicherer ist anzu-
nehmen, dass in den älteren Beobachtungen manches Wichtige über-
sehen worden ist, um so mehr aber auch ist von einer noch gründlicheren
und genaueren Untersuchung in Zukunft zu erwarten.

Nicht nur diese negative Befunde aber, sondern ebensosehr ihre
theoretische Verwendung und die aus ihnen gezogenen Schlüsse,
sind mit der achtsamsten Critik aufzunehmen. Sollte man es glauben,
dass noch heute einzelne verdienstvolle Irrenärzte mit der zeitweisen
Abwesenheit anatomischer Alterationen in den Leichen überhaupt deren
Werth entkräften und die Folgerung machen wollen, dass die ana-
tomischen Läsionen desswegen auch da, wo sie vorhanden sind, nicht
die nächste Ursache der geistigen Anomalieen sein können, weil ja
diese zuweilen ohne solche anatomische Veränderung vorkommen? --
Nicht anders, als ob man schliessen wollte: weil zuweilen Husten
und Dyspnoe ohne anatomische Veränderung der Lungen vorkommt,
so können bei der Pneumonie diese Symptome nicht die Ergebnisse
der palpabeln Erkrankung der Lunge sein; weil es Krämpfe, Con-
tracturen, Lähmungen ohne Substanzveränderung des Rückenmarks

anatomischer Veränderungen.
dass dieselben nach den übereinstimmenden Beobachtungen der neueren,
sorgfältigen Beobachter immerhin die entschiedene Minderzahl bilden.
Man muss ihre Zahl nicht nach den Berichten derjenigen Irrenärzte
schätzen, welche, vortreffliche Administratoren oder Moralisten, keine
Zeit gehabt haben, sich mit dem Bau des Gehirns und seinen patho-
logischen Veränderungen bekannt zu machen, welche das Gehirn nur
grob, mit Messer und Gabel zu zerschneiden wissen und freilich
immer Nichts finden. Man muss bedenken, wie leicht manche feinere,
aber desshalb doch sehr wichtige Alterationen z. B. die feinen pseu-
domembranösen Anflüge auf der Innenfläche der Dura, kleine Schädel-
osteophyte, Nüançen der Färbung und Consistenz der grauen Sub-
stanz etc. einer nur gewöhnlichen Aufmerksamkeit entgehen, und man
darf die urtheilenden Berichte über die normale oder anomale Be-
schaffenheit des Organs überhaupt nur von Seiten derer annehmen,
welche durch den ganzen Geist ihrer Schriften zeigen, dass sie mit
der pathologischen Anatomie vertraut sind, dass sie dieselbe über-
haupt anerkennen und dass sie wissen, was man zu suchen, auf
was man zu achten hat. Je mehr in neuester Zeit durch Auffindung
noch unbekannter anatomischer Störungen im Gehirn und durch eine
genauere anatomische und logische Zergliederung der früher bekannten
(Rokitansky, Durand-Fardel, Bennet, Kasloff etc.) die pathologische Ana-
tomie des Gehirns gefördert worden ist, um so sicherer ist anzu-
nehmen, dass in den älteren Beobachtungen manches Wichtige über-
sehen worden ist, um so mehr aber auch ist von einer noch gründlicheren
und genaueren Untersuchung in Zukunft zu erwarten.

Nicht nur diese negative Befunde aber, sondern ebensosehr ihre
theoretische Verwendung und die aus ihnen gezogenen Schlüsse,
sind mit der achtsamsten Critik aufzunehmen. Sollte man es glauben,
dass noch heute einzelne verdienstvolle Irrenärzte mit der zeitweisen
Abwesenheit anatomischer Alterationen in den Leichen überhaupt deren
Werth entkräften und die Folgerung machen wollen, dass die ana-
tomischen Läsionen desswegen auch da, wo sie vorhanden sind, nicht
die nächste Ursache der geistigen Anomalieen sein können, weil ja
diese zuweilen ohne solche anatomische Veränderung vorkommen? —
Nicht anders, als ob man schliessen wollte: weil zuweilen Husten
und Dyspnoe ohne anatomische Veränderung der Lungen vorkommt,
so können bei der Pneumonie diese Symptome nicht die Ergebnisse
der palpabeln Erkrankung der Lunge sein; weil es Krämpfe, Con-
tracturen, Lähmungen ohne Substanzveränderung des Rückenmarks

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[293/0307] anatomischer Veränderungen. dass dieselben nach den übereinstimmenden Beobachtungen der neueren, sorgfältigen Beobachter immerhin die entschiedene Minderzahl bilden. Man muss ihre Zahl nicht nach den Berichten derjenigen Irrenärzte schätzen, welche, vortreffliche Administratoren oder Moralisten, keine Zeit gehabt haben, sich mit dem Bau des Gehirns und seinen patho- logischen Veränderungen bekannt zu machen, welche das Gehirn nur grob, mit Messer und Gabel zu zerschneiden wissen und freilich immer Nichts finden. Man muss bedenken, wie leicht manche feinere, aber desshalb doch sehr wichtige Alterationen z. B. die feinen pseu- domembranösen Anflüge auf der Innenfläche der Dura, kleine Schädel- osteophyte, Nüançen der Färbung und Consistenz der grauen Sub- stanz etc. einer nur gewöhnlichen Aufmerksamkeit entgehen, und man darf die urtheilenden Berichte über die normale oder anomale Be- schaffenheit des Organs überhaupt nur von Seiten derer annehmen, welche durch den ganzen Geist ihrer Schriften zeigen, dass sie mit der pathologischen Anatomie vertraut sind, dass sie dieselbe über- haupt anerkennen und dass sie wissen, was man zu suchen, auf was man zu achten hat. Je mehr in neuester Zeit durch Auffindung noch unbekannter anatomischer Störungen im Gehirn und durch eine genauere anatomische und logische Zergliederung der früher bekannten (Rokitansky, Durand-Fardel, Bennet, Kasloff etc.) die pathologische Ana- tomie des Gehirns gefördert worden ist, um so sicherer ist anzu- nehmen, dass in den älteren Beobachtungen manches Wichtige über- sehen worden ist, um so mehr aber auch ist von einer noch gründlicheren und genaueren Untersuchung in Zukunft zu erwarten. Nicht nur diese negative Befunde aber, sondern ebensosehr ihre theoretische Verwendung und die aus ihnen gezogenen Schlüsse, sind mit der achtsamsten Critik aufzunehmen. Sollte man es glauben, dass noch heute einzelne verdienstvolle Irrenärzte mit der zeitweisen Abwesenheit anatomischer Alterationen in den Leichen überhaupt deren Werth entkräften und die Folgerung machen wollen, dass die ana- tomischen Läsionen desswegen auch da, wo sie vorhanden sind, nicht die nächste Ursache der geistigen Anomalieen sein können, weil ja diese zuweilen ohne solche anatomische Veränderung vorkommen? — Nicht anders, als ob man schliessen wollte: weil zuweilen Husten und Dyspnoe ohne anatomische Veränderung der Lungen vorkommt, so können bei der Pneumonie diese Symptome nicht die Ergebnisse der palpabeln Erkrankung der Lunge sein; weil es Krämpfe, Con- tracturen, Lähmungen ohne Substanzveränderung des Rückenmarks

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/307>, abgerufen am 26.11.2024.