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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Ursachen und äusseren Umständen.
Apoplexie und länger bestandener Epilepsie auftretenden Geistes-
krankheiten sind, namentlich die beiden letzteren fast ganz unheilbar;
gleichfalls für schlimm gelten die nach typhösen Fiebern sich ent-
wickelnden Fälle. -- Ganz traurig ist auch die Prognose bei dem
Irresein der alten Säufer, welches frühzeitig den Character geistiger
Schwäche trägt; die früher aus mässiger Trunksucht entstandenen
Fälle gehören zu den heilbaren, übrigens mit ausserordentlicher Ge-
neigtheit zu Rückfällen. -- Onanisten und durch sexuelle Excesse
Erschöpfte bieten, wenn eine Reparation des Allgemeinbefindens,
eine erfolgreiche Behandlung etwa bestehender Localkrankheiten und
vor Allem ein entschiedenes Aufgeben jener Ursache zu erlangen
ist, im Anfang eine nicht ganz ungünstige Prognose; unheilbar da-
gegen sind solche zum Wahnsinn vorgeschrittene Fälle, namentlich
die, wo sich der Wahn einer nahen Vereinigung mit dem Ueberir-
dischen in höchst schmutziger und verrückter Weise mit dem Hange
zur Selbstbefleckung combinirt hat.

Von grossem prognostischem Einflusse sind auch die äusseren
Umstände und Verhältnisse des Kranken. Wo Dürftigkeit oder sonstige
Ungunst des Schicksals jede wirksame Massregel hemmt, wo Eigensinn
und Vorurtheil der Umgebung ein wirksames Eingreifen zur rechten
Zeit unmöglich macht, wo die Entfernung aus der Lebenslage, in der
die psychische Störung entstand und immer neue Nahrung findet,
nicht thunlich ist, da mache man sich keine Illusionen über die Ge-
nesungsfähigkeit, da hoffe man nichts von der Natur, deren Heilkraft
es am Ende doch noch gut machen werde.

§. 156.

Der Ueberblick über die Heilbarkeitsverhältnisse des Irreseins
ergibt im Ganzen tröstliche Resultate. Nach der Statistik der Irren-
anstalten gestatten die frisch ausgebrochenen Geisteskrankheiten eine
weit günstigere Prognose, als die meisten anderen Hirnaffectionen.
Wenn man indessen -- wie man es sollte -- unter "Genesung" eben die
totale Beseitigung der Gehirnkrankheit, die völlige Rückkehr zum
früheren geistigen Verhalten, den Wiedereintritt des ganzen früheren
Umfangs der Intelligenz, der ganzen Kraft des Characters verstehen
will, so muss man ein solches Resultat allerdings nicht eben besonders
häufig erwarten. Weit zahlreicher sind die Fälle, wo zwar die Haupt-
symptome des Irreseins verschwinden, das Individuum aber theils
eine leise geistige Schwäche, theils eine andauernde hohe psychische
Reizbarkeit, theils einzelne Ties und Bizarrerieen zurückbehält, mit

Griesinger, psych. Krankhtn. 22

Ursachen und äusseren Umständen.
Apoplexie und länger bestandener Epilepsie auftretenden Geistes-
krankheiten sind, namentlich die beiden letzteren fast ganz unheilbar;
gleichfalls für schlimm gelten die nach typhösen Fiebern sich ent-
wickelnden Fälle. — Ganz traurig ist auch die Prognose bei dem
Irresein der alten Säufer, welches frühzeitig den Character geistiger
Schwäche trägt; die früher aus mässiger Trunksucht entstandenen
Fälle gehören zu den heilbaren, übrigens mit ausserordentlicher Ge-
neigtheit zu Rückfällen. — Onanisten und durch sexuelle Excesse
Erschöpfte bieten, wenn eine Reparation des Allgemeinbefindens,
eine erfolgreiche Behandlung etwa bestehender Localkrankheiten und
vor Allem ein entschiedenes Aufgeben jener Ursache zu erlangen
ist, im Anfang eine nicht ganz ungünstige Prognose; unheilbar da-
gegen sind solche zum Wahnsinn vorgeschrittene Fälle, namentlich
die, wo sich der Wahn einer nahen Vereinigung mit dem Ueberir-
dischen in höchst schmutziger und verrückter Weise mit dem Hange
zur Selbstbefleckung combinirt hat.

Von grossem prognostischem Einflusse sind auch die äusseren
Umstände und Verhältnisse des Kranken. Wo Dürftigkeit oder sonstige
Ungunst des Schicksals jede wirksame Massregel hemmt, wo Eigensinn
und Vorurtheil der Umgebung ein wirksames Eingreifen zur rechten
Zeit unmöglich macht, wo die Entfernung aus der Lebenslage, in der
die psychische Störung entstand und immer neue Nahrung findet,
nicht thunlich ist, da mache man sich keine Illusionen über die Ge-
nesungsfähigkeit, da hoffe man nichts von der Natur, deren Heilkraft
es am Ende doch noch gut machen werde.

§. 156.

Der Ueberblick über die Heilbarkeitsverhältnisse des Irreseins
ergibt im Ganzen tröstliche Resultate. Nach der Statistik der Irren-
anstalten gestatten die frisch ausgebrochenen Geisteskrankheiten eine
weit günstigere Prognose, als die meisten anderen Hirnaffectionen.
Wenn man indessen — wie man es sollte — unter „Genesung“ eben die
totale Beseitigung der Gehirnkrankheit, die völlige Rückkehr zum
früheren geistigen Verhalten, den Wiedereintritt des ganzen früheren
Umfangs der Intelligenz, der ganzen Kraft des Characters verstehen
will, so muss man ein solches Resultat allerdings nicht eben besonders
häufig erwarten. Weit zahlreicher sind die Fälle, wo zwar die Haupt-
symptome des Irreseins verschwinden, das Individuum aber theils
eine leise geistige Schwäche, theils eine andauernde hohe psychische
Reizbarkeit, theils einzelne Ties und Bizarrerieen zurückbehält, mit

Griesinger, psych. Krankhtn. 22
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[337/0351] Ursachen und äusseren Umständen. Apoplexie und länger bestandener Epilepsie auftretenden Geistes- krankheiten sind, namentlich die beiden letzteren fast ganz unheilbar; gleichfalls für schlimm gelten die nach typhösen Fiebern sich ent- wickelnden Fälle. — Ganz traurig ist auch die Prognose bei dem Irresein der alten Säufer, welches frühzeitig den Character geistiger Schwäche trägt; die früher aus mässiger Trunksucht entstandenen Fälle gehören zu den heilbaren, übrigens mit ausserordentlicher Ge- neigtheit zu Rückfällen. — Onanisten und durch sexuelle Excesse Erschöpfte bieten, wenn eine Reparation des Allgemeinbefindens, eine erfolgreiche Behandlung etwa bestehender Localkrankheiten und vor Allem ein entschiedenes Aufgeben jener Ursache zu erlangen ist, im Anfang eine nicht ganz ungünstige Prognose; unheilbar da- gegen sind solche zum Wahnsinn vorgeschrittene Fälle, namentlich die, wo sich der Wahn einer nahen Vereinigung mit dem Ueberir- dischen in höchst schmutziger und verrückter Weise mit dem Hange zur Selbstbefleckung combinirt hat. Von grossem prognostischem Einflusse sind auch die äusseren Umstände und Verhältnisse des Kranken. Wo Dürftigkeit oder sonstige Ungunst des Schicksals jede wirksame Massregel hemmt, wo Eigensinn und Vorurtheil der Umgebung ein wirksames Eingreifen zur rechten Zeit unmöglich macht, wo die Entfernung aus der Lebenslage, in der die psychische Störung entstand und immer neue Nahrung findet, nicht thunlich ist, da mache man sich keine Illusionen über die Ge- nesungsfähigkeit, da hoffe man nichts von der Natur, deren Heilkraft es am Ende doch noch gut machen werde. §. 156. Der Ueberblick über die Heilbarkeitsverhältnisse des Irreseins ergibt im Ganzen tröstliche Resultate. Nach der Statistik der Irren- anstalten gestatten die frisch ausgebrochenen Geisteskrankheiten eine weit günstigere Prognose, als die meisten anderen Hirnaffectionen. Wenn man indessen — wie man es sollte — unter „Genesung“ eben die totale Beseitigung der Gehirnkrankheit, die völlige Rückkehr zum früheren geistigen Verhalten, den Wiedereintritt des ganzen früheren Umfangs der Intelligenz, der ganzen Kraft des Characters verstehen will, so muss man ein solches Resultat allerdings nicht eben besonders häufig erwarten. Weit zahlreicher sind die Fälle, wo zwar die Haupt- symptome des Irreseins verschwinden, das Individuum aber theils eine leise geistige Schwäche, theils eine andauernde hohe psychische Reizbarkeit, theils einzelne Ties und Bizarrerieen zurückbehält, mit Griesinger, psych. Krankhtn. 22

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/351>, abgerufen am 22.11.2024.