wahrhaft persönlichen, die leibliche und geistige Natur des Menschen zugleich fassenden Behandlung zu sprechen, und wenn im Einzelnen der folgenden Abhandlung psychische und somatische Behandlung äusserlich auseinander gehalten wird, so kann der Punkt ihrer inner- lichen Vereinigung keinen Augenblick mehr dunkel sein.
§. 161.
Wenn die Therapie dieser Krankheiten -- namentlich die so matische -- zum grössten Theile mit den Grundsätzen und den Verfahrungsweisen der sonst gebräuchlichen Therapie zusammenstimmt, so stellen sich auf unserem Gebiete auch einige besondere Forde- rungen an jedes vernünftige ärztliche Einwirken mit ganz besonderer Deutlichkeit und Dringlichkeit heraus. Nirgends ist das Bedürfniss strengen Individualisirens grösser, als in der Irrenbehandlung, nirgends ist ein stetes Bewusstsein darüber nothwendiger, dass nicht eine Krankheit, sondern ein einzelner Kranker, nicht die Tobsucht, sondern ein tobsüchtig Gewordener das Object unserer Behandlung sei. In jedem einzelnen Falle will der immer wieder andersartige Zusammenhang der Erkrankungsmomente eruirt, mit allen Mitteln anatomischer Diagnostik und pathologischer Analyse aufgehellt sein und es wird hier noch ein Eingehen in die geistige Seite der Indi- vidualität gefordert, wie solches in der sonstigen Praxis kaum ver- langt wird. Hieraus ergibt sich einerseits die practische Regel, dass kein Fall -- dringende Hülfe gegen schnelle Zufälle ausgenommen -- in thätige Behandlung genommen werden sollte, dessen Anamnese und Entstehung nicht durchschaut wird, und bei dem jene schon p. 97 als die ersten Acte ärztlicher Wirksamkeit an Geisteskranken bezeichneten Forderungen nicht erfüllt sind; es geht hieraus aber auch eine Mannigfaltigkeit der practischen Irrenbehandlung hervor, welche in den Büchern gar nicht einzeln exponirt werden kann, für welche sich hier nur die allgemeinen Grundsätze aufstellen und an- geben lassen. -- Auch die Nothwendigkeit, gegen solche chronische Krankheiten möglichst frühzeitig, beim ersten Beginn und noch vor vollständiger Ausbildung der Erkrankung alsbald kräftig einzu- schreiten, drängt sich in der Irrentherapie ungewöhnlich lebhaft auf; schon die über Prognose gegebenen Bemerkungen (§. 154.) müssen diesen Punkt genügend festgestellt haben. Andrerseits aber ist bei schon ausgebrochener Krankheit auch vor nichts mehr zu warnen, als vor ungeduldiger Vielgeschäftigkeit in der Therapie. Man muss sich erinnern, dass der gewöhnliche Verlauf dieser Krankheiten auch
Allgemeine Therapie.
wahrhaft persönlichen, die leibliche und geistige Natur des Menschen zugleich fassenden Behandlung zu sprechen, und wenn im Einzelnen der folgenden Abhandlung psychische und somatische Behandlung äusserlich auseinander gehalten wird, so kann der Punkt ihrer inner- lichen Vereinigung keinen Augenblick mehr dunkel sein.
§. 161.
Wenn die Therapie dieser Krankheiten — namentlich die so matische — zum grössten Theile mit den Grundsätzen und den Verfahrungsweisen der sonst gebräuchlichen Therapie zusammenstimmt, so stellen sich auf unserem Gebiete auch einige besondere Forde- rungen an jedes vernünftige ärztliche Einwirken mit ganz besonderer Deutlichkeit und Dringlichkeit heraus. Nirgends ist das Bedürfniss strengen Individualisirens grösser, als in der Irrenbehandlung, nirgends ist ein stetes Bewusstsein darüber nothwendiger, dass nicht eine Krankheit, sondern ein einzelner Kranker, nicht die Tobsucht, sondern ein tobsüchtig Gewordener das Object unserer Behandlung sei. In jedem einzelnen Falle will der immer wieder andersartige Zusammenhang der Erkrankungsmomente eruirt, mit allen Mitteln anatomischer Diagnostik und pathologischer Analyse aufgehellt sein und es wird hier noch ein Eingehen in die geistige Seite der Indi- vidualität gefordert, wie solches in der sonstigen Praxis kaum ver- langt wird. Hieraus ergibt sich einerseits die practische Regel, dass kein Fall — dringende Hülfe gegen schnelle Zufälle ausgenommen — in thätige Behandlung genommen werden sollte, dessen Anamnese und Entstehung nicht durchschaut wird, und bei dem jene schon p. 97 als die ersten Acte ärztlicher Wirksamkeit an Geisteskranken bezeichneten Forderungen nicht erfüllt sind; es geht hieraus aber auch eine Mannigfaltigkeit der practischen Irrenbehandlung hervor, welche in den Büchern gar nicht einzeln exponirt werden kann, für welche sich hier nur die allgemeinen Grundsätze aufstellen und an- geben lassen. — Auch die Nothwendigkeit, gegen solche chronische Krankheiten möglichst frühzeitig, beim ersten Beginn und noch vor vollständiger Ausbildung der Erkrankung alsbald kräftig einzu- schreiten, drängt sich in der Irrentherapie ungewöhnlich lebhaft auf; schon die über Prognose gegebenen Bemerkungen (§. 154.) müssen diesen Punkt genügend festgestellt haben. Andrerseits aber ist bei schon ausgebrochener Krankheit auch vor nichts mehr zu warnen, als vor ungeduldiger Vielgeschäftigkeit in der Therapie. Man muss sich erinnern, dass der gewöhnliche Verlauf dieser Krankheiten auch
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Allgemeine Therapie.
wahrhaft persönlichen, die leibliche und geistige Natur des Menschen
zugleich fassenden Behandlung zu sprechen, und wenn im Einzelnen
der folgenden Abhandlung psychische und somatische Behandlung
äusserlich auseinander gehalten wird, so kann der Punkt ihrer inner-
lichen Vereinigung keinen Augenblick mehr dunkel sein.
§. 161.
Wenn die Therapie dieser Krankheiten — namentlich die so
matische — zum grössten Theile mit den Grundsätzen und den
Verfahrungsweisen der sonst gebräuchlichen Therapie zusammenstimmt,
so stellen sich auf unserem Gebiete auch einige besondere Forde-
rungen an jedes vernünftige ärztliche Einwirken mit ganz besonderer
Deutlichkeit und Dringlichkeit heraus. Nirgends ist das Bedürfniss
strengen Individualisirens grösser, als in der Irrenbehandlung,
nirgends ist ein stetes Bewusstsein darüber nothwendiger, dass nicht
eine Krankheit, sondern ein einzelner Kranker, nicht die Tobsucht,
sondern ein tobsüchtig Gewordener das Object unserer Behandlung
sei. In jedem einzelnen Falle will der immer wieder andersartige
Zusammenhang der Erkrankungsmomente eruirt, mit allen Mitteln
anatomischer Diagnostik und pathologischer Analyse aufgehellt sein
und es wird hier noch ein Eingehen in die geistige Seite der Indi-
vidualität gefordert, wie solches in der sonstigen Praxis kaum ver-
langt wird. Hieraus ergibt sich einerseits die practische Regel, dass
kein Fall — dringende Hülfe gegen schnelle Zufälle ausgenommen
— in thätige Behandlung genommen werden sollte, dessen Anamnese
und Entstehung nicht durchschaut wird, und bei dem jene schon
p. 97 als die ersten Acte ärztlicher Wirksamkeit an Geisteskranken
bezeichneten Forderungen nicht erfüllt sind; es geht hieraus aber
auch eine Mannigfaltigkeit der practischen Irrenbehandlung hervor,
welche in den Büchern gar nicht einzeln exponirt werden kann, für
welche sich hier nur die allgemeinen Grundsätze aufstellen und an-
geben lassen. — Auch die Nothwendigkeit, gegen solche chronische
Krankheiten möglichst frühzeitig, beim ersten Beginn und noch
vor vollständiger Ausbildung der Erkrankung alsbald kräftig einzu-
schreiten, drängt sich in der Irrentherapie ungewöhnlich lebhaft auf;
schon die über Prognose gegebenen Bemerkungen (§. 154.) müssen
diesen Punkt genügend festgestellt haben. Andrerseits aber ist bei
schon ausgebrochener Krankheit auch vor nichts mehr zu warnen,
als vor ungeduldiger Vielgeschäftigkeit in der Therapie. Man muss
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/358>, abgerufen am 22.11.2024.
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