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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Indicationen zur Blutentziehung.
heftigste Tobsucht aus. Indicirt dagegen ist die Venäsection in dem
Aufregungszustande der acuten Meningitis (um so mehr je stärker
das Fieber ist), bei entschiedener allgemeiner Plethora, bei den acut
entstandenen Unregelmässigkeiten des kleinen Kreislaufs, wie solche
nach heftigen plötzlichen Gemüthsbewegungen unter stürmischer un-
regelmässiger Herzbewegung und Kopfcongestion mit den Symptomen
psychischer Alteration rasch auftreten. Dass der Aderlass in manchen
Fällen, wo das Irresein bald nach einer Kopfverletzung sich zeigt, in
intercurrirenden Entzündungen innerer Organe (Pneumonie), in allen
schnellen und heftigen Congestionen einen Theil der hier indicirten
strengen antiphlogistischen Behandlung ausmachen muss, versteht
sich von selbst.

Ueber die Anwendung der VS. herrschten immer verschiedene Ansichten und
vielfache Debatten *). Im alten Bedlam machte man früher allen Kranken im
Sommer mehrere Aderlässe, und die höchst verfehlte, ergiebigste Anwendung dieses
Mittels war in Frankreich im vorigen Jahrhundert als "Traitement de l'Hotel-
Dieu" bekannt. Willis, Chiarugi, namentlich aber Pinel erklärten sich nachdrüklich
gegen den allzuhäufigen, ohne Distinction vorgenommenen Gebrauch des Mittels,
Hill, Esquirol, Burrows und die meisten deutschen Aerzte schlossen sich ihnen
an. Der Hauptvertheidiger grosser Venäsectionen war Rush (Untersuchungen über
die Seelenkrankeiten, übersetzt von König, Leipzig 1825, p. 149 seqq.) namentlich für
die Manie; Haslam, Foville und A. wandten ihn häufig in gemässigteren Graden
an. Es ist beachtenswerth, dass unter 200 Kranken, denen Haslam in Bedlam
zur Ader liess, das Blut nur 6mal eine Kruste zeigte (Rush l. c. p. 150).
Manche nur halbwahre Indicationen für ihn wurden von Einzelnen aufgestellt, so
das jugendliche Alter, die frische Erkrankung, das starke Klopfen der Kopfarterien,
welches doch (M. Hall) gerade auch beim Delirium aus Anämie vorkommt; auch
die mässige Kopfcongestion (warmer Kopf, rothe Augen etc.) erheischt die VS.
an sich noch nicht, da sie häufig bei allgemein gesunkener Ernährung vorkommt.

Von weit ausgedehnterer Anwendung als die Venäsection sind die
örtlichen Blutentziehungen durch Schröpfköpfe und Blutegel. Schon
in der acuten Meningitis bewirken sie sicherer und unmittelbarer die
Entleerung des Gehirns; ihre auch in chronischen Zuständen häufig
nützliche Anwendung ist derjenigen in den chronischen Rückenmarks-
leiden, die auch so oft durch Blutegel, niemals durch Aderlässe
gebessert werden, analog. Bei allen stärkeren Kopfcongestionen sieht
man oft eine überraschend schnelle und günstige Wirkung auf das
Irresein, und wenn diese auch selten eine ganz nachhaltige ist, so
kann das Mittel doch häufig wiederholt, mitunter mit sehr gutem
Erfolg längere Zeit fort in regelmässigen Zeitperioden applicirt werden.

*) Resümirend haben davon gehandelt Friedreich, in Friedreich und Blumröder,
Blätter für Psychiatrie, I., Nasse, in Jacobi und Nasse, Zeitschrift I., p. 216 seqq.

Indicationen zur Blutentziehung.
heftigste Tobsucht aus. Indicirt dagegen ist die Venäsection in dem
Aufregungszustande der acuten Meningitis (um so mehr je stärker
das Fieber ist), bei entschiedener allgemeiner Plethora, bei den acut
entstandenen Unregelmässigkeiten des kleinen Kreislaufs, wie solche
nach heftigen plötzlichen Gemüthsbewegungen unter stürmischer un-
regelmässiger Herzbewegung und Kopfcongestion mit den Symptomen
psychischer Alteration rasch auftreten. Dass der Aderlass in manchen
Fällen, wo das Irresein bald nach einer Kopfverletzung sich zeigt, in
intercurrirenden Entzündungen innerer Organe (Pneumonie), in allen
schnellen und heftigen Congestionen einen Theil der hier indicirten
strengen antiphlogistischen Behandlung ausmachen muss, versteht
sich von selbst.

Ueber die Anwendung der VS. herrschten immer verschiedene Ansichten und
vielfache Debatten *). Im alten Bedlam machte man früher allen Kranken im
Sommer mehrere Aderlässe, und die höchst verfehlte, ergiebigste Anwendung dieses
Mittels war in Frankreich im vorigen Jahrhundert als „Traitement de l’Hotel-
Dieu“ bekannt. Willis, Chiarugi, namentlich aber Pinel erklärten sich nachdrüklich
gegen den allzuhäufigen, ohne Distinction vorgenommenen Gebrauch des Mittels,
Hill, Esquirol, Burrows und die meisten deutschen Aerzte schlossen sich ihnen
an. Der Hauptvertheidiger grosser Venäsectionen war Rush (Untersuchungen über
die Seelenkrankeiten, übersetzt von König, Leipzig 1825, p. 149 seqq.) namentlich für
die Manie; Haslam, Foville und A. wandten ihn häufig in gemässigteren Graden
an. Es ist beachtenswerth, dass unter 200 Kranken, denen Haslam in Bedlam
zur Ader liess, das Blut nur 6mal eine Kruste zeigte (Rush l. c. p. 150).
Manche nur halbwahre Indicationen für ihn wurden von Einzelnen aufgestellt, so
das jugendliche Alter, die frische Erkrankung, das starke Klopfen der Kopfarterien,
welches doch (M. Hall) gerade auch beim Delirium aus Anämie vorkommt; auch
die mässige Kopfcongestion (warmer Kopf, rothe Augen etc.) erheischt die VS.
an sich noch nicht, da sie häufig bei allgemein gesunkener Ernährung vorkommt.

Von weit ausgedehnterer Anwendung als die Venäsection sind die
örtlichen Blutentziehungen durch Schröpfköpfe und Blutegel. Schon
in der acuten Meningitis bewirken sie sicherer und unmittelbarer die
Entleerung des Gehirns; ihre auch in chronischen Zuständen häufig
nützliche Anwendung ist derjenigen in den chronischen Rückenmarks-
leiden, die auch so oft durch Blutegel, niemals durch Aderlässe
gebessert werden, analog. Bei allen stärkeren Kopfcongestionen sieht
man oft eine überraschend schnelle und günstige Wirkung auf das
Irresein, und wenn diese auch selten eine ganz nachhaltige ist, so
kann das Mittel doch häufig wiederholt, mitunter mit sehr gutem
Erfolg längere Zeit fort in regelmässigen Zeitperioden applicirt werden.

*) Resümirend haben davon gehandelt Friedreich, in Friedreich und Blumröder,
Blätter für Psychiatrie, I., Nasse, in Jacobi und Nasse, Zeitschrift I., p. 216 seqq.
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[354/0368] Indicationen zur Blutentziehung. heftigste Tobsucht aus. Indicirt dagegen ist die Venäsection in dem Aufregungszustande der acuten Meningitis (um so mehr je stärker das Fieber ist), bei entschiedener allgemeiner Plethora, bei den acut entstandenen Unregelmässigkeiten des kleinen Kreislaufs, wie solche nach heftigen plötzlichen Gemüthsbewegungen unter stürmischer un- regelmässiger Herzbewegung und Kopfcongestion mit den Symptomen psychischer Alteration rasch auftreten. Dass der Aderlass in manchen Fällen, wo das Irresein bald nach einer Kopfverletzung sich zeigt, in intercurrirenden Entzündungen innerer Organe (Pneumonie), in allen schnellen und heftigen Congestionen einen Theil der hier indicirten strengen antiphlogistischen Behandlung ausmachen muss, versteht sich von selbst. Ueber die Anwendung der VS. herrschten immer verschiedene Ansichten und vielfache Debatten *). Im alten Bedlam machte man früher allen Kranken im Sommer mehrere Aderlässe, und die höchst verfehlte, ergiebigste Anwendung dieses Mittels war in Frankreich im vorigen Jahrhundert als „Traitement de l’Hotel- Dieu“ bekannt. Willis, Chiarugi, namentlich aber Pinel erklärten sich nachdrüklich gegen den allzuhäufigen, ohne Distinction vorgenommenen Gebrauch des Mittels, Hill, Esquirol, Burrows und die meisten deutschen Aerzte schlossen sich ihnen an. Der Hauptvertheidiger grosser Venäsectionen war Rush (Untersuchungen über die Seelenkrankeiten, übersetzt von König, Leipzig 1825, p. 149 seqq.) namentlich für die Manie; Haslam, Foville und A. wandten ihn häufig in gemässigteren Graden an. Es ist beachtenswerth, dass unter 200 Kranken, denen Haslam in Bedlam zur Ader liess, das Blut nur 6mal eine Kruste zeigte (Rush l. c. p. 150). Manche nur halbwahre Indicationen für ihn wurden von Einzelnen aufgestellt, so das jugendliche Alter, die frische Erkrankung, das starke Klopfen der Kopfarterien, welches doch (M. Hall) gerade auch beim Delirium aus Anämie vorkommt; auch die mässige Kopfcongestion (warmer Kopf, rothe Augen etc.) erheischt die VS. an sich noch nicht, da sie häufig bei allgemein gesunkener Ernährung vorkommt. Von weit ausgedehnterer Anwendung als die Venäsection sind die örtlichen Blutentziehungen durch Schröpfköpfe und Blutegel. Schon in der acuten Meningitis bewirken sie sicherer und unmittelbarer die Entleerung des Gehirns; ihre auch in chronischen Zuständen häufig nützliche Anwendung ist derjenigen in den chronischen Rückenmarks- leiden, die auch so oft durch Blutegel, niemals durch Aderlässe gebessert werden, analog. Bei allen stärkeren Kopfcongestionen sieht man oft eine überraschend schnelle und günstige Wirkung auf das Irresein, und wenn diese auch selten eine ganz nachhaltige ist, so kann das Mittel doch häufig wiederholt, mitunter mit sehr gutem Erfolg längere Zeit fort in regelmässigen Zeitperioden applicirt werden. *) Resümirend haben davon gehandelt Friedreich, in Friedreich und Blumröder, Blätter für Psychiatrie, I., Nasse, in Jacobi und Nasse, Zeitschrift I., p. 216 seqq.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/368>, abgerufen am 22.11.2024.