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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Narcotica.
fortgesetzt werden; ihre Hauptwirkung scheint eine psychische, indem
der andauernde lebhafte Schmerz, der sich immer dem Bewusstsein
aufdrängt, den Zug der krankhaften Ideen unterbricht und das Ver-
weilen auf ihnen hindert. -- Vom Haarseil könnte besonders in ein-
zelnen Fällen nach Kopfverletzung passend Gebrauch gemacht werden;
Moxa und Glüheisen -- das letztere namentlich häufig, aber ohne
Erfolg, bei Paralytisch-Blödsinnigen angewandt -- entbehren jeder
festen Indication und sind fast ganz verlassen worden. -- Alle
diese tieferen Hautreize sind nicht nur in Zuständen hoher acuter
Exaltation durchaus unpassend, sie sind es auch bei sinnlosen Kran-
ken, welche die gereizte Hautfläche oft heftiger Reibung oder der
Kälte aussetzen; bedeutende erisypelatöse Entzündungen können hier
entstehen, bei einzelnen adynamischen Zuständen kann Gangrän
eintreten -- Gefahren, welche hier durch den problematischen Nutzen
dieser Applicationen weit nicht aufgewogen werden.

§. 170.

Von einer directen Einwirkung auf die Gehirnfunction durch
Narcotica könnte man a priori Bedeutendes erwarten. Doch wird
man alsbald die Indication zu diesen Mitteln beschränken müssen,
wenn man erwägt, wie häufig das Irresein das lange vorbereitete,
allmählig festgewurzelte Resultat zusammengesetzter Einwirkungen ist,
wie häufig es auf anatomischen Veränderungen beruht und wie die
meisten und eben die kräftigsten Narcotica sich nur zu vorüberge-
hender Anwendung eignen. Die Beobachtung zeigt auch wie diese
Mittel wohl niemals für sich allein zur Heilung, sondern mehr mo-
mentan zur Hebung und Milderung einzelner Symptome dienen.

Die gebräuchlichste und empfehlenswertheste dieser Arzneien ist
die Digitalis. Bekannt ist ihre entschiedene Wirksamkeit im De-
lirium tremens, und ebenso günstig wirkt sie auch bei vielen andern
Tobsüchtigen. Wenn sie zunächst durch Unregelmässigkeiten der
Circulation, stürmischen Herzstoss, grosse Pulsfrequenz und durch
Structurveränderungen des Herzens indicirt ist -- unter diesen Um-
ständen ebenso gut bei Melancholischen als Maniacis -- so wird doch
die empirische Anwendung des Mittels auch in den Fällen, wo keine
Störung der Herzthätigkeit zu bemerken ist, oft durch günstige
Erfolge gerechtfertigt. Die Digitalis hat den Vortheil, in längerer
Anwendung fortgegeben werden zu können, und wird passend in
einzelnen Fällen mit Tartarus emeticus, mit Elix. acid. H., mit diu
retischen Mitteln verbunden; man beginnt mit mässigen Dosen; die

Narcotica.
fortgesetzt werden; ihre Hauptwirkung scheint eine psychische, indem
der andauernde lebhafte Schmerz, der sich immer dem Bewusstsein
aufdrängt, den Zug der krankhaften Ideen unterbricht und das Ver-
weilen auf ihnen hindert. — Vom Haarseil könnte besonders in ein-
zelnen Fällen nach Kopfverletzung passend Gebrauch gemacht werden;
Moxa und Glüheisen — das letztere namentlich häufig, aber ohne
Erfolg, bei Paralytisch-Blödsinnigen angewandt — entbehren jeder
festen Indication und sind fast ganz verlassen worden. — Alle
diese tieferen Hautreize sind nicht nur in Zuständen hoher acuter
Exaltation durchaus unpassend, sie sind es auch bei sinnlosen Kran-
ken, welche die gereizte Hautfläche oft heftiger Reibung oder der
Kälte aussetzen; bedeutende erisypelatöse Entzündungen können hier
entstehen, bei einzelnen adynamischen Zuständen kann Gangrän
eintreten — Gefahren, welche hier durch den problematischen Nutzen
dieser Applicationen weit nicht aufgewogen werden.

§. 170.

Von einer directen Einwirkung auf die Gehirnfunction durch
Narcotica könnte man a priori Bedeutendes erwarten. Doch wird
man alsbald die Indication zu diesen Mitteln beschränken müssen,
wenn man erwägt, wie häufig das Irresein das lange vorbereitete,
allmählig festgewurzelte Resultat zusammengesetzter Einwirkungen ist,
wie häufig es auf anatomischen Veränderungen beruht und wie die
meisten und eben die kräftigsten Narcotica sich nur zu vorüberge-
hender Anwendung eignen. Die Beobachtung zeigt auch wie diese
Mittel wohl niemals für sich allein zur Heilung, sondern mehr mo-
mentan zur Hebung und Milderung einzelner Symptome dienen.

Die gebräuchlichste und empfehlenswertheste dieser Arzneien ist
die Digitalis. Bekannt ist ihre entschiedene Wirksamkeit im De-
lirium tremens, und ebenso günstig wirkt sie auch bei vielen andern
Tobsüchtigen. Wenn sie zunächst durch Unregelmässigkeiten der
Circulation, stürmischen Herzstoss, grosse Pulsfrequenz und durch
Structurveränderungen des Herzens indicirt ist — unter diesen Um-
ständen ebenso gut bei Melancholischen als Maniacis — so wird doch
die empirische Anwendung des Mittels auch in den Fällen, wo keine
Störung der Herzthätigkeit zu bemerken ist, oft durch günstige
Erfolge gerechtfertigt. Die Digitalis hat den Vortheil, in längerer
Anwendung fortgegeben werden zu können, und wird passend in
einzelnen Fällen mit Tartarus emeticus, mit Elix. acid. H., mit diu
retischen Mitteln verbunden; man beginnt mit mässigen Dosen; die

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[357/0371] Narcotica. fortgesetzt werden; ihre Hauptwirkung scheint eine psychische, indem der andauernde lebhafte Schmerz, der sich immer dem Bewusstsein aufdrängt, den Zug der krankhaften Ideen unterbricht und das Ver- weilen auf ihnen hindert. — Vom Haarseil könnte besonders in ein- zelnen Fällen nach Kopfverletzung passend Gebrauch gemacht werden; Moxa und Glüheisen — das letztere namentlich häufig, aber ohne Erfolg, bei Paralytisch-Blödsinnigen angewandt — entbehren jeder festen Indication und sind fast ganz verlassen worden. — Alle diese tieferen Hautreize sind nicht nur in Zuständen hoher acuter Exaltation durchaus unpassend, sie sind es auch bei sinnlosen Kran- ken, welche die gereizte Hautfläche oft heftiger Reibung oder der Kälte aussetzen; bedeutende erisypelatöse Entzündungen können hier entstehen, bei einzelnen adynamischen Zuständen kann Gangrän eintreten — Gefahren, welche hier durch den problematischen Nutzen dieser Applicationen weit nicht aufgewogen werden. §. 170. Von einer directen Einwirkung auf die Gehirnfunction durch Narcotica könnte man a priori Bedeutendes erwarten. Doch wird man alsbald die Indication zu diesen Mitteln beschränken müssen, wenn man erwägt, wie häufig das Irresein das lange vorbereitete, allmählig festgewurzelte Resultat zusammengesetzter Einwirkungen ist, wie häufig es auf anatomischen Veränderungen beruht und wie die meisten und eben die kräftigsten Narcotica sich nur zu vorüberge- hender Anwendung eignen. Die Beobachtung zeigt auch wie diese Mittel wohl niemals für sich allein zur Heilung, sondern mehr mo- mentan zur Hebung und Milderung einzelner Symptome dienen. Die gebräuchlichste und empfehlenswertheste dieser Arzneien ist die Digitalis. Bekannt ist ihre entschiedene Wirksamkeit im De- lirium tremens, und ebenso günstig wirkt sie auch bei vielen andern Tobsüchtigen. Wenn sie zunächst durch Unregelmässigkeiten der Circulation, stürmischen Herzstoss, grosse Pulsfrequenz und durch Structurveränderungen des Herzens indicirt ist — unter diesen Um- ständen ebenso gut bei Melancholischen als Maniacis — so wird doch die empirische Anwendung des Mittels auch in den Fällen, wo keine Störung der Herzthätigkeit zu bemerken ist, oft durch günstige Erfolge gerechtfertigt. Die Digitalis hat den Vortheil, in längerer Anwendung fortgegeben werden zu können, und wird passend in einzelnen Fällen mit Tartarus emeticus, mit Elix. acid. H., mit diu retischen Mitteln verbunden; man beginnt mit mässigen Dosen; die

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/371>, abgerufen am 22.11.2024.