Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Behandlung in der Reconvalescenz.
derte ihm, ich versuchte den Schlüssel zu balanciren, und bemerkte dabei, er
würde dasselbe mit dem Hebel nicht thun können. Er versuchte es sogleich,
streckte die Hand aus und stellte den Hebel darauf; ich nahm diesen nun ganz
sanft herunter, ohne ihm etwas Weiteres zu bemerken. Wiewohl es ihm unan-
genehm schien, sich entwaffnet zu sehen, machte er doch keinen Versuch, seine
Waffe zurückzunehmen, und wenige Augenblicke nachher war jede Spur von Auf-
regung verschwunden. (Ellis, traite p. 311.)

§. 185.

Die Periode der Reconvalescenz bedarf noch vieler Schonung
und Aufsicht. Der Genesene bleibt oft noch lange in einer höchst
weichen und reizbaren Gemüthsverfassung, die letzten Reste falscher
Vorstellungen verschwinden oft erst spät und es bedarf oft noch einer
längeren Behandlung vorhandener körperlicher Beschwerden. Er soll
daher erst nach möglichst consolidirter, geistiger und leiblicher Ge-
sundheit, meist erst einige Monate nach dem Eintritt der Reconva-
lescenz, aus dem Irrenhause entlassen werden, und es sollte diese
Entlassung, wie diess in einzelnen Musteranstalten auch eingeführt
ist, immer zunächst eine versuchsweise sein, so dass der Kranke
bei drohendem oder eingetretenem Rückfalle ohne alles Zaudern der
Anstalt wieder übergeben werden kann.

Stellt sich in der Reconvalescenz grosse Abspannung und Ermü-
dung ein, so darf solche nicht mit Reizmitteln bekämpft werden; man
sorge für Ruhe, passende Diät, viele Bewegung im Freien, für all-
mählige Selbstthätigkeit. Im Uebrigen aber gestatte man dem Gene-
senen grössere Freiheit und zunehmenden Verkehr mit der Welt, in
dem Masse, als Lust und Fähigkeit dazu sich wieder einstellen. Er
muss an eine passende Beschäftigung gewöhnt, in heitere Umgebung
gebracht werden; alle Gemüthsbewegungen müssen von ihm ferne ge-
halten oder doch schonend geleitet, durch verständigen Zuspruch, der
hier am Platze ist, muss ihm eine klare Erkenntniss seiner Krankheit
verschafft, durch Uebung seiner Kräfte, durch das Beispiel Anderer,
auch durch den Trost der Religion, Muth und Selbstvertrauen in ihm
gehoben werden. Rathschläge für die Zukunft zu einfacher Lebens-
weise, geeigneter Thätigkeit, zu Allem, was ihn vor Rückfällen be-
wahren kann, sind hier am Platze. Für manche Fälle passen dann
Zerstreuungen, Reisen oder Badekuren; andere finden nur in baldiger
Rückkehr in den engeren Kreis ihres Berufs und ihrer Familie die
vollständige Genesung wieder. Mancher kehrt vernünftiger, als er je
gewesen, aus dem Irrenhause heim; wäre es doch möglich von dem
oft so innerlich gekräftigten, so dankbaren und frohen Genesenen

Behandlung in der Reconvalescenz.
derte ihm, ich versuchte den Schlüssel zu balanciren, und bemerkte dabei, er
würde dasselbe mit dem Hebel nicht thun können. Er versuchte es sogleich,
streckte die Hand aus und stellte den Hebel darauf; ich nahm diesen nun ganz
sanft herunter, ohne ihm etwas Weiteres zu bemerken. Wiewohl es ihm unan-
genehm schien, sich entwaffnet zu sehen, machte er doch keinen Versuch, seine
Waffe zurückzunehmen, und wenige Augenblicke nachher war jede Spur von Auf-
regung verschwunden. (Ellis, traité p. 311.)

§. 185.

Die Periode der Reconvalescenz bedarf noch vieler Schonung
und Aufsicht. Der Genesene bleibt oft noch lange in einer höchst
weichen und reizbaren Gemüthsverfassung, die letzten Reste falscher
Vorstellungen verschwinden oft erst spät und es bedarf oft noch einer
längeren Behandlung vorhandener körperlicher Beschwerden. Er soll
daher erst nach möglichst consolidirter, geistiger und leiblicher Ge-
sundheit, meist erst einige Monate nach dem Eintritt der Reconva-
lescenz, aus dem Irrenhause entlassen werden, und es sollte diese
Entlassung, wie diess in einzelnen Musteranstalten auch eingeführt
ist, immer zunächst eine versuchsweise sein, so dass der Kranke
bei drohendem oder eingetretenem Rückfalle ohne alles Zaudern der
Anstalt wieder übergeben werden kann.

Stellt sich in der Reconvalescenz grosse Abspannung und Ermü-
dung ein, so darf solche nicht mit Reizmitteln bekämpft werden; man
sorge für Ruhe, passende Diät, viele Bewegung im Freien, für all-
mählige Selbstthätigkeit. Im Uebrigen aber gestatte man dem Gene-
senen grössere Freiheit und zunehmenden Verkehr mit der Welt, in
dem Masse, als Lust und Fähigkeit dazu sich wieder einstellen. Er
muss an eine passende Beschäftigung gewöhnt, in heitere Umgebung
gebracht werden; alle Gemüthsbewegungen müssen von ihm ferne ge-
halten oder doch schonend geleitet, durch verständigen Zuspruch, der
hier am Platze ist, muss ihm eine klare Erkenntniss seiner Krankheit
verschafft, durch Uebung seiner Kräfte, durch das Beispiel Anderer,
auch durch den Trost der Religion, Muth und Selbstvertrauen in ihm
gehoben werden. Rathschläge für die Zukunft zu einfacher Lebens-
weise, geeigneter Thätigkeit, zu Allem, was ihn vor Rückfällen be-
wahren kann, sind hier am Platze. Für manche Fälle passen dann
Zerstreuungen, Reisen oder Badekuren; andere finden nur in baldiger
Rückkehr in den engeren Kreis ihres Berufs und ihrer Familie die
vollständige Genesung wieder. Mancher kehrt vernünftiger, als er je
gewesen, aus dem Irrenhause heim; wäre es doch möglich von dem
oft so innerlich gekräftigten, so dankbaren und frohen Genesenen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0395" n="381"/><fw place="top" type="header">Behandlung in der Reconvalescenz.</fw><lb/>
derte ihm, ich versuchte den Schlüssel zu balanciren, und bemerkte dabei, er<lb/>
würde dasselbe mit dem Hebel nicht thun können. Er versuchte es sogleich,<lb/>
streckte die Hand aus und stellte den Hebel darauf; ich nahm diesen nun ganz<lb/>
sanft herunter, ohne ihm etwas Weiteres zu bemerken. Wiewohl es ihm unan-<lb/>
genehm schien, sich entwaffnet zu sehen, machte er doch keinen Versuch, seine<lb/>
Waffe zurückzunehmen, und wenige Augenblicke nachher war jede Spur von Auf-<lb/>
regung verschwunden. (Ellis, traité p. 311.)</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 185.</head><lb/>
              <p>Die Periode der <hi rendition="#g">Reconvalescenz</hi> bedarf noch vieler Schonung<lb/>
und Aufsicht. Der Genesene bleibt oft noch lange in einer höchst<lb/>
weichen und reizbaren Gemüthsverfassung, die letzten Reste falscher<lb/>
Vorstellungen verschwinden oft erst spät und es bedarf oft noch einer<lb/>
längeren Behandlung vorhandener körperlicher Beschwerden. Er soll<lb/>
daher erst nach möglichst consolidirter, geistiger und leiblicher Ge-<lb/>
sundheit, meist erst einige Monate nach dem Eintritt der Reconva-<lb/>
lescenz, aus dem Irrenhause entlassen werden, und es sollte diese<lb/>
Entlassung, wie diess in einzelnen Musteranstalten auch eingeführt<lb/>
ist, immer zunächst eine versuchsweise sein, so dass der Kranke<lb/>
bei drohendem oder eingetretenem Rückfalle ohne alles Zaudern der<lb/>
Anstalt wieder übergeben werden kann.</p><lb/>
              <p>Stellt sich in der Reconvalescenz grosse Abspannung und Ermü-<lb/>
dung ein, so darf solche nicht mit Reizmitteln bekämpft werden; man<lb/>
sorge für Ruhe, passende Diät, viele Bewegung im Freien, für all-<lb/>
mählige Selbstthätigkeit. Im Uebrigen aber gestatte man dem Gene-<lb/>
senen grössere Freiheit und zunehmenden Verkehr mit der Welt, in<lb/>
dem Masse, als Lust und Fähigkeit dazu sich wieder einstellen. Er<lb/>
muss an eine passende Beschäftigung gewöhnt, in heitere Umgebung<lb/>
gebracht werden; alle Gemüthsbewegungen müssen von ihm ferne ge-<lb/>
halten oder doch schonend geleitet, durch verständigen Zuspruch, der<lb/>
hier am Platze ist, muss ihm eine klare Erkenntniss seiner Krankheit<lb/>
verschafft, durch Uebung seiner Kräfte, durch das Beispiel Anderer,<lb/>
auch durch den Trost der Religion, Muth und Selbstvertrauen in ihm<lb/>
gehoben werden. Rathschläge für die Zukunft zu einfacher Lebens-<lb/>
weise, geeigneter Thätigkeit, zu Allem, was ihn vor Rückfällen be-<lb/>
wahren kann, sind hier am Platze. Für manche Fälle passen dann<lb/>
Zerstreuungen, Reisen oder Badekuren; andere finden nur in baldiger<lb/>
Rückkehr in den engeren Kreis ihres Berufs und ihrer Familie die<lb/>
vollständige Genesung wieder. Mancher kehrt vernünftiger, als er je<lb/>
gewesen, aus dem Irrenhause heim; wäre es doch möglich von dem<lb/>
oft so innerlich gekräftigten, so dankbaren und frohen Genesenen<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[381/0395] Behandlung in der Reconvalescenz. derte ihm, ich versuchte den Schlüssel zu balanciren, und bemerkte dabei, er würde dasselbe mit dem Hebel nicht thun können. Er versuchte es sogleich, streckte die Hand aus und stellte den Hebel darauf; ich nahm diesen nun ganz sanft herunter, ohne ihm etwas Weiteres zu bemerken. Wiewohl es ihm unan- genehm schien, sich entwaffnet zu sehen, machte er doch keinen Versuch, seine Waffe zurückzunehmen, und wenige Augenblicke nachher war jede Spur von Auf- regung verschwunden. (Ellis, traité p. 311.) §. 185. Die Periode der Reconvalescenz bedarf noch vieler Schonung und Aufsicht. Der Genesene bleibt oft noch lange in einer höchst weichen und reizbaren Gemüthsverfassung, die letzten Reste falscher Vorstellungen verschwinden oft erst spät und es bedarf oft noch einer längeren Behandlung vorhandener körperlicher Beschwerden. Er soll daher erst nach möglichst consolidirter, geistiger und leiblicher Ge- sundheit, meist erst einige Monate nach dem Eintritt der Reconva- lescenz, aus dem Irrenhause entlassen werden, und es sollte diese Entlassung, wie diess in einzelnen Musteranstalten auch eingeführt ist, immer zunächst eine versuchsweise sein, so dass der Kranke bei drohendem oder eingetretenem Rückfalle ohne alles Zaudern der Anstalt wieder übergeben werden kann. Stellt sich in der Reconvalescenz grosse Abspannung und Ermü- dung ein, so darf solche nicht mit Reizmitteln bekämpft werden; man sorge für Ruhe, passende Diät, viele Bewegung im Freien, für all- mählige Selbstthätigkeit. Im Uebrigen aber gestatte man dem Gene- senen grössere Freiheit und zunehmenden Verkehr mit der Welt, in dem Masse, als Lust und Fähigkeit dazu sich wieder einstellen. Er muss an eine passende Beschäftigung gewöhnt, in heitere Umgebung gebracht werden; alle Gemüthsbewegungen müssen von ihm ferne ge- halten oder doch schonend geleitet, durch verständigen Zuspruch, der hier am Platze ist, muss ihm eine klare Erkenntniss seiner Krankheit verschafft, durch Uebung seiner Kräfte, durch das Beispiel Anderer, auch durch den Trost der Religion, Muth und Selbstvertrauen in ihm gehoben werden. Rathschläge für die Zukunft zu einfacher Lebens- weise, geeigneter Thätigkeit, zu Allem, was ihn vor Rückfällen be- wahren kann, sind hier am Platze. Für manche Fälle passen dann Zerstreuungen, Reisen oder Badekuren; andere finden nur in baldiger Rückkehr in den engeren Kreis ihres Berufs und ihrer Familie die vollständige Genesung wieder. Mancher kehrt vernünftiger, als er je gewesen, aus dem Irrenhause heim; wäre es doch möglich von dem oft so innerlich gekräftigten, so dankbaren und frohen Genesenen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/395
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/395>, abgerufen am 22.11.2024.