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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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oder Vereinigung der Anstalten.
leicht andere ganz neue Verhältnisse (S. p. 380) ihm noch nützlich
werden hönnen. Mit Zeller halten wir den Vortheil einer solchen
Versetzung der Kranken in eine ganz andere Anstalt für nicht gering,
und es wird diese Ansicht durch die günstigen Erfahrungen, die man
neuerlich in Frankreich bei den im Grossen vorgenommenen Kranken-
Translocationen gemacht hat, durchaus bestätigt *). Derselbe Arzt
führt noch als wichtige Gründe gegen diese Vereinigung an: den
Mangel an einer vollkommenen Uebersicht und einer individuellen
Behandlung bei einer so grossen Menge von Kranken unter Einer
ärztlichen Oberaufsicht, die Ueberhäufung des ärztlichen Vorstands
mit einer Masse amtlicher, aber zunächst nicht zum Krankendienst
gehöriger Geschäfte, die grössere Störbarkeit einer so complicirten,
vieler Hülfsorgane bedürfenden Einrichtung, die Gefahr einer Ver-
nachlässigung der unheilbaren Kranken über den für das ärztliche
Geschäft weit dankbareren heilbaren, endlich den üblen Einfluss, den
der Anblick vieler abgestorbener und hoffnungsloser Kranken, ja schon
das Bewusstsein der Nähe so vieler Unheilbaren auf die Neuerkrank-
ten haben kann.

Man muss die Vorzüge des einen und des andern Systems nicht
mit apriorischen Gründen ins Allgemeine beweisen; bei der Einrich-
tung des Irrenwesens in einem Staate oder in einer Provinz kommt
sehr viel auf die Bewohnerzahl des Landes, auf die Zahl der vor-
handenen Irren, auf die Möglichkeit, schon vorhandene Gebäude zu
benützen, auf die Geldmittel, über die man disponiren kann, auf be-
sondere Zwecke, die man etwa mit der Anstalt verbinden will
(z. B. clinischen Unterricht) an, und das meiste hängt am Ende doch
von der Art der Ausführung und von dem Geiste ab, den das Ganze
durch die leitenden Persönlichkeiten gewinnt. Neben den grossen,
relativ verbundenen Anstalten braucht man immer noch besondere
Pflegehäuser für Cretins, Epileptische u. dgl.; bei der Trennung bei-
der Anstalten muss die Pflegeanstalt wenigstens die dreifache Be-
wohnerzahl der Heilanstalt fassen (3 -- 400: 100). Ueberhaupt
können und müssen die Pflegeanstalten gross sein; für die Heilan-
stalten ist die Möglichkeit eines schnellen Abflusses aller als unheilbar
Erkannten ein Haupterforderniss. Wo aber diesem genügt ist, wo
die Heilanstalt wirklich lauter in activer Behandlung befindliche Kranke

*) Vgl. den interessanten Bericht über die Versetzung einer grossen Anzahl
von Irren aus den überfüllten Pariser Anstalten in zum Theil sehr entfernte
Provincial-Anstalten, von Trelat, Annal. med. psychol. Tom. IV. 1844. p. 230, 366.
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oder Vereinigung der Anstalten.
leicht andere ganz neue Verhältnisse (S. p. 380) ihm noch nützlich
werden hönnen. Mit Zeller halten wir den Vortheil einer solchen
Versetzung der Kranken in eine ganz andere Anstalt für nicht gering,
und es wird diese Ansicht durch die günstigen Erfahrungen, die man
neuerlich in Frankreich bei den im Grossen vorgenommenen Kranken-
Translocationen gemacht hat, durchaus bestätigt *). Derselbe Arzt
führt noch als wichtige Gründe gegen diese Vereinigung an: den
Mangel an einer vollkommenen Uebersicht und einer individuellen
Behandlung bei einer so grossen Menge von Kranken unter Einer
ärztlichen Oberaufsicht, die Ueberhäufung des ärztlichen Vorstands
mit einer Masse amtlicher, aber zunächst nicht zum Krankendienst
gehöriger Geschäfte, die grössere Störbarkeit einer so complicirten,
vieler Hülfsorgane bedürfenden Einrichtung, die Gefahr einer Ver-
nachlässigung der unheilbaren Kranken über den für das ärztliche
Geschäft weit dankbareren heilbaren, endlich den üblen Einfluss, den
der Anblick vieler abgestorbener und hoffnungsloser Kranken, ja schon
das Bewusstsein der Nähe so vieler Unheilbaren auf die Neuerkrank-
ten haben kann.

Man muss die Vorzüge des einen und des andern Systems nicht
mit apriorischen Gründen ins Allgemeine beweisen; bei der Einrich-
tung des Irrenwesens in einem Staate oder in einer Provinz kommt
sehr viel auf die Bewohnerzahl des Landes, auf die Zahl der vor-
handenen Irren, auf die Möglichkeit, schon vorhandene Gebäude zu
benützen, auf die Geldmittel, über die man disponiren kann, auf be-
sondere Zwecke, die man etwa mit der Anstalt verbinden will
(z. B. clinischen Unterricht) an, und das meiste hängt am Ende doch
von der Art der Ausführung und von dem Geiste ab, den das Ganze
durch die leitenden Persönlichkeiten gewinnt. Neben den grossen,
relativ verbundenen Anstalten braucht man immer noch besondere
Pflegehäuser für Cretins, Epileptische u. dgl.; bei der Trennung bei-
der Anstalten muss die Pflegeanstalt wenigstens die dreifache Be-
wohnerzahl der Heilanstalt fassen (3 — 400: 100). Ueberhaupt
können und müssen die Pflegeanstalten gross sein; für die Heilan-
stalten ist die Möglichkeit eines schnellen Abflusses aller als unheilbar
Erkannten ein Haupterforderniss. Wo aber diesem genügt ist, wo
die Heilanstalt wirklich lauter in activer Behandlung befindliche Kranke

*) Vgl. den interessanten Bericht über die Versetzung einer grossen Anzahl
von Irren aus den überfüllten Pariser Anstalten in zum Theil sehr entfernte
Provincial-Anstalten, von Trélat, Annal. med. psychol. Tom. IV. 1844. p. 230, 366.
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[387/0401] oder Vereinigung der Anstalten. leicht andere ganz neue Verhältnisse (S. p. 380) ihm noch nützlich werden hönnen. Mit Zeller halten wir den Vortheil einer solchen Versetzung der Kranken in eine ganz andere Anstalt für nicht gering, und es wird diese Ansicht durch die günstigen Erfahrungen, die man neuerlich in Frankreich bei den im Grossen vorgenommenen Kranken- Translocationen gemacht hat, durchaus bestätigt *). Derselbe Arzt führt noch als wichtige Gründe gegen diese Vereinigung an: den Mangel an einer vollkommenen Uebersicht und einer individuellen Behandlung bei einer so grossen Menge von Kranken unter Einer ärztlichen Oberaufsicht, die Ueberhäufung des ärztlichen Vorstands mit einer Masse amtlicher, aber zunächst nicht zum Krankendienst gehöriger Geschäfte, die grössere Störbarkeit einer so complicirten, vieler Hülfsorgane bedürfenden Einrichtung, die Gefahr einer Ver- nachlässigung der unheilbaren Kranken über den für das ärztliche Geschäft weit dankbareren heilbaren, endlich den üblen Einfluss, den der Anblick vieler abgestorbener und hoffnungsloser Kranken, ja schon das Bewusstsein der Nähe so vieler Unheilbaren auf die Neuerkrank- ten haben kann. Man muss die Vorzüge des einen und des andern Systems nicht mit apriorischen Gründen ins Allgemeine beweisen; bei der Einrich- tung des Irrenwesens in einem Staate oder in einer Provinz kommt sehr viel auf die Bewohnerzahl des Landes, auf die Zahl der vor- handenen Irren, auf die Möglichkeit, schon vorhandene Gebäude zu benützen, auf die Geldmittel, über die man disponiren kann, auf be- sondere Zwecke, die man etwa mit der Anstalt verbinden will (z. B. clinischen Unterricht) an, und das meiste hängt am Ende doch von der Art der Ausführung und von dem Geiste ab, den das Ganze durch die leitenden Persönlichkeiten gewinnt. Neben den grossen, relativ verbundenen Anstalten braucht man immer noch besondere Pflegehäuser für Cretins, Epileptische u. dgl.; bei der Trennung bei- der Anstalten muss die Pflegeanstalt wenigstens die dreifache Be- wohnerzahl der Heilanstalt fassen (3 — 400: 100). Ueberhaupt können und müssen die Pflegeanstalten gross sein; für die Heilan- stalten ist die Möglichkeit eines schnellen Abflusses aller als unheilbar Erkannten ein Haupterforderniss. Wo aber diesem genügt ist, wo die Heilanstalt wirklich lauter in activer Behandlung befindliche Kranke *) Vgl. den interessanten Bericht über die Versetzung einer grossen Anzahl von Irren aus den überfüllten Pariser Anstalten in zum Theil sehr entfernte Provincial-Anstalten, von Trélat, Annal. med. psychol. Tom. IV. 1844. p. 230, 366. 25*

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/401>, abgerufen am 22.11.2024.