Controlle über ihre Wirksamkeit ausüben. Missbräuche und Schänd- lichkeiten, wie sie in einzelnen englischen Privatanstalten vorfielen, sollten, wiewohl sich nirgends in Deutschland etwas ähnliches hefürch- ten lässt, doch auf alle Fälle unmöglich gemacht werden.
Auch noch auf andere Weise, als durch Anstalten, hat man an einzelnen Orten für Bewahrung und Beschäftigung der Irren gesorgt. Eine Irrencolonie bildet das merkwürdige belgische Dorf Gheel, in welchem seit vielen Jahrhunderten Geisteskranke aller Art mit den Einwohnern und ihren Familien zusammen leben. Früher suchte man daselbst Hülfe für sie bei der heiligen Dymphne, der Patronin der Irren, zu deren Wundern man gegenwärtig nur noch selten Zu- flucht nimmt. Dagegen suchte man in neuerer Zeit Regelmässigkeit und Ordnung in diesem, mehr als 700 Kranke enthaltenden Irren- depot einzuführen; die Kranken wurden unter vier Aerzte vertheilt, der ganzen Sache wurde ein dirigirendes Comite vorgesetzt und eine bessere Polizei und Aufsicht eingeführt. Die Irren geniessen hier immer noch ein Mass von Genüssen und Freiheit, wie ihnen in keiner Anstalt zu Theil werden kann; alle dazu Fähigen nehmen An- theil an den Arbeiten der Gesunden, namentlich Hand- und Feldarbeit ist allgemein eingeführt. Die Behandlung ist im Ganzen eine sehr milde; die Anwendung von Zwangsmitteln darf nicht ohne vorherige Anfrage bei dem Arzte geschehen. Selbstmorde sind sehr selten, und der physische Gesundheitszustand ist im allgemeinen so gut, dass man im Jahr 1838 zwei hundertjährige Irren dort fand. Das Ent- weichen der Kranken wird durch die eigenthümliche Lage von Gheel, das, von Heidegründen umgeben, mehre Stunden von andern Dörfern entfernt liegt, sehr erschwert. Bei allen diesen Vortheilen haben sich immer auch die bedeutendsten Uebelstände gezeigt, und erst neulich kam es vor, dass der Bürgermeister von Gheel von einem Irren in einem Wuthanfall erschlagen wurde. (Froriep's Notizen. 1845. Nro. 720.) Eine Nachahmung von Gheel in andern Ländern würden wir nicht für zweckmässig, besonders aber nicht für möglich halten.
Privat-Anstalten. Irren-Colonie.
Controlle über ihre Wirksamkeit ausüben. Missbräuche und Schänd- lichkeiten, wie sie in einzelnen englischen Privatanstalten vorfielen, sollten, wiewohl sich nirgends in Deutschland etwas ähnliches hefürch- ten lässt, doch auf alle Fälle unmöglich gemacht werden.
Auch noch auf andere Weise, als durch Anstalten, hat man an einzelnen Orten für Bewahrung und Beschäftigung der Irren gesorgt. Eine Irrencolonie bildet das merkwürdige belgische Dorf Gheel, in welchem seit vielen Jahrhunderten Geisteskranke aller Art mit den Einwohnern und ihren Familien zusammen leben. Früher suchte man daselbst Hülfe für sie bei der heiligen Dymphne, der Patronin der Irren, zu deren Wundern man gegenwärtig nur noch selten Zu- flucht nimmt. Dagegen suchte man in neuerer Zeit Regelmässigkeit und Ordnung in diesem, mehr als 700 Kranke enthaltenden Irren- depot einzuführen; die Kranken wurden unter vier Aerzte vertheilt, der ganzen Sache wurde ein dirigirendes Comité vorgesetzt und eine bessere Polizei und Aufsicht eingeführt. Die Irren geniessen hier immer noch ein Mass von Genüssen und Freiheit, wie ihnen in keiner Anstalt zu Theil werden kann; alle dazu Fähigen nehmen An- theil an den Arbeiten der Gesunden, namentlich Hand- und Feldarbeit ist allgemein eingeführt. Die Behandlung ist im Ganzen eine sehr milde; die Anwendung von Zwangsmitteln darf nicht ohne vorherige Anfrage bei dem Arzte geschehen. Selbstmorde sind sehr selten, und der physische Gesundheitszustand ist im allgemeinen so gut, dass man im Jahr 1838 zwei hundertjährige Irren dort fand. Das Ent- weichen der Kranken wird durch die eigenthümliche Lage von Gheel, das, von Heidegründen umgeben, mehre Stunden von andern Dörfern entfernt liegt, sehr erschwert. Bei allen diesen Vortheilen haben sich immer auch die bedeutendsten Uebelstände gezeigt, und erst neulich kam es vor, dass der Bürgermeister von Gheel von einem Irren in einem Wuthanfall erschlagen wurde. (Froriep’s Notizen. 1845. Nro. 720.) Eine Nachahmung von Gheel in andern Ländern würden wir nicht für zweckmässig, besonders aber nicht für möglich halten.
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Privat-Anstalten. Irren-Colonie.
Controlle über ihre Wirksamkeit ausüben. Missbräuche und Schänd-
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sollten, wiewohl sich nirgends in Deutschland etwas ähnliches hefürch-
ten lässt, doch auf alle Fälle unmöglich gemacht werden.
Auch noch auf andere Weise, als durch Anstalten, hat man an
einzelnen Orten für Bewahrung und Beschäftigung der Irren gesorgt.
Eine Irrencolonie bildet das merkwürdige belgische Dorf Gheel,
in welchem seit vielen Jahrhunderten Geisteskranke aller Art mit den
Einwohnern und ihren Familien zusammen leben. Früher suchte
man daselbst Hülfe für sie bei der heiligen Dymphne, der Patronin
der Irren, zu deren Wundern man gegenwärtig nur noch selten Zu-
flucht nimmt. Dagegen suchte man in neuerer Zeit Regelmässigkeit
und Ordnung in diesem, mehr als 700 Kranke enthaltenden Irren-
depot einzuführen; die Kranken wurden unter vier Aerzte vertheilt,
der ganzen Sache wurde ein dirigirendes Comité vorgesetzt und eine
bessere Polizei und Aufsicht eingeführt. Die Irren geniessen hier
immer noch ein Mass von Genüssen und Freiheit, wie ihnen in
keiner Anstalt zu Theil werden kann; alle dazu Fähigen nehmen An-
theil an den Arbeiten der Gesunden, namentlich Hand- und Feldarbeit
ist allgemein eingeführt. Die Behandlung ist im Ganzen eine sehr
milde; die Anwendung von Zwangsmitteln darf nicht ohne vorherige
Anfrage bei dem Arzte geschehen. Selbstmorde sind sehr selten,
und der physische Gesundheitszustand ist im allgemeinen so gut, dass
man im Jahr 1838 zwei hundertjährige Irren dort fand. Das Ent-
weichen der Kranken wird durch die eigenthümliche Lage von Gheel,
das, von Heidegründen umgeben, mehre Stunden von andern Dörfern
entfernt liegt, sehr erschwert. Bei allen diesen Vortheilen haben
sich immer auch die bedeutendsten Uebelstände gezeigt, und erst
neulich kam es vor, dass der Bürgermeister von Gheel von einem Irren
in einem Wuthanfall erschlagen wurde. (Froriep’s Notizen. 1845.
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/410>, abgerufen am 23.11.2024.
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