Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Entstehung und Sitz
Fällen, wo bei Trübung der durchsichtigen Medien des Auges Ge-
sichtshallucinationen beobachtet wurden, *) wo es scheint, als ob
jener undeutlichen, verschwommenen, streifigen, wolkigen Bilder,
welche die Retina aufnimmt, sich die Phantasie als ihres Materials
bemächtigte, um erst an ihnen ihre bildnerische Combination zu
äussern. Sodann aber weisen jene nicht seltenen Fälle, wo Gesichts-
hallucinationen durch äussere Bedeckung des Auges zum Verschwin-
den gebracht werden konnten, weiter auf einen gewissen Antheil hin,
den die unverletzte Retina an diesen Phänomenen nehmen kann.
Und das Merkwürdigste endlich sind jene, unsers Wissens sehr sel-
tenen Fälle, wo bei einer passenden Stellung des Auges die Hallu-
cination doppelt gesehen wurde.

Ein Nicht-Irrer, der an häufigen Gesichtshallucinationen litt, erhob sich eines
Abends, da er in einem Garten sass, schnell von seinem Sitze und empfand einen
leichten Schwindel, der gewöhnlich eintrat, wenn er schnell aufstand. Als der
Schwindel vorüber war, sah er die Gestalt eines Mannes, der mit einem langen,
blauen Mantel drapirt war, in geringer Entfernung unter einem Baume: nach
1--2 Minuten wurde die Gestalt schwächer und verschwand. Eine halbe Stunde
später sah er dieselbe Gestalt unter demselben Baume und in der nämlichen Stel-
lung. Er drückte, zum Versuche, den Augapfel einer Seite, ohne andern Erfolg,
als dass die Gestalt undeutlicher wurde; aber, als er seine Augen schief
stellte, sah er die Gestalt doppelt und in natürlicher Grösse
. Er
trat nun darauf los, die Gestalt entfernte sich Schritt vor Schritt und verschwand
im Schatten eines Baumes. Patterson, l. c. p. 171. Müller bestreitet die Ansicht,
dass die Hallucinationen in der Retina ihren Sitz haben. l. c. §. 64--73.

Fälle, wo durch Bedecken des Auges Gesichtshallucinationen aufhörten, sind
in ziemlicher Anzahl bekannt. "Ein junger Mensch sieht um sich alle Personen
des Hofes; er wirft sich zu den Füssen Desjenigen, den er für den Monarchen
hält etc.; ich lasse ihm zwei Tage die Augen verbinden, und sein Delirium hört
auf. Nachdem die Binde abgenommen, beginnt es von Neuem" (Esquirol). Reil
(Rhapsodieen) erzählt, dass eine Dame, die Gespenster und Ungeheuer sah, in
ein Delirium mit Convulsionen verfiel und dass ihre Kammerfrau, um sie aufrecht
zu erhalten, ihre Hand auf die Augen der Kranken legte, und diese sogleich aus-
rief: Ich bin geheilt! -- Dieses erneuerte sich mit demselben Erfolg bei dem
Arzte (Esquirol, übers. von Bernhard. I. p. 12). -- "D., 75 Jahre alt, geistig
gesund, kommt eines Tages nach Hause, erschrocken über tausend Visionen, die
ihn verfolgen. Wohin er blickt, verwandeln sich die Gegenstände in Schreck-

*) Vgl. den bekannten, von Bonnet (Essai analytique sur l'ame. Chap. 23.)
erzählten Fall eines Greisen, der auf beiden Seiten an Cataract operirt worden
war und nur mit dem rechten Auge noch Gegenstände unterscheiden konnte. Er
hatte die lebhaftesten Gesichtshallucinationen, ohne an deren Realität zu glauben.
Bei einer Kranken, die ich hier beobachten konnte, ist Cataract beider Augen
vorhanden und ihr Irresein bewegt sich fast ganz in den vielfältigsten Gesichts-
hallucinationen.

Entstehung und Sitz
Fällen, wo bei Trübung der durchsichtigen Medien des Auges Ge-
sichtshallucinationen beobachtet wurden, *) wo es scheint, als ob
jener undeutlichen, verschwommenen, streifigen, wolkigen Bilder,
welche die Retina aufnimmt, sich die Phantasie als ihres Materials
bemächtigte, um erst an ihnen ihre bildnerische Combination zu
äussern. Sodann aber weisen jene nicht seltenen Fälle, wo Gesichts-
hallucinationen durch äussere Bedeckung des Auges zum Verschwin-
den gebracht werden konnten, weiter auf einen gewissen Antheil hin,
den die unverletzte Retina an diesen Phänomenen nehmen kann.
Und das Merkwürdigste endlich sind jene, unsers Wissens sehr sel-
tenen Fälle, wo bei einer passenden Stellung des Auges die Hallu-
cination doppelt gesehen wurde.

Ein Nicht-Irrer, der an häufigen Gesichtshallucinationen litt, erhob sich eines
Abends, da er in einem Garten sass, schnell von seinem Sitze und empfand einen
leichten Schwindel, der gewöhnlich eintrat, wenn er schnell aufstand. Als der
Schwindel vorüber war, sah er die Gestalt eines Mannes, der mit einem langen,
blauen Mantel drapirt war, in geringer Entfernung unter einem Baume: nach
1—2 Minuten wurde die Gestalt schwächer und verschwand. Eine halbe Stunde
später sah er dieselbe Gestalt unter demselben Baume und in der nämlichen Stel-
lung. Er drückte, zum Versuche, den Augapfel einer Seite, ohne andern Erfolg,
als dass die Gestalt undeutlicher wurde; aber, als er seine Augen schief
stellte, sah er die Gestalt doppelt und in natürlicher Grösse
. Er
trat nun darauf los, die Gestalt entfernte sich Schritt vor Schritt und verschwand
im Schatten eines Baumes. Patterson, l. c. p. 171. Müller bestreitet die Ansicht,
dass die Hallucinationen in der Retina ihren Sitz haben. l. c. §. 64—73.

Fälle, wo durch Bedecken des Auges Gesichtshallucinationen aufhörten, sind
in ziemlicher Anzahl bekannt. „Ein junger Mensch sieht um sich alle Personen
des Hofes; er wirft sich zu den Füssen Desjenigen, den er für den Monarchen
hält etc.; ich lasse ihm zwei Tage die Augen verbinden, und sein Delirium hört
auf. Nachdem die Binde abgenommen, beginnt es von Neuem“ (Esquirol). Reil
(Rhapsodieen) erzählt, dass eine Dame, die Gespenster und Ungeheuer sah, in
ein Delirium mit Convulsionen verfiel und dass ihre Kammerfrau, um sie aufrecht
zu erhalten, ihre Hand auf die Augen der Kranken legte, und diese sogleich aus-
rief: Ich bin geheilt! — Dieses erneuerte sich mit demselben Erfolg bei dem
Arzte (Esquirol, übers. von Bernhard. I. p. 12). — „D., 75 Jahre alt, geistig
gesund, kommt eines Tages nach Hause, erschrocken über tausend Visionen, die
ihn verfolgen. Wohin er blickt, verwandeln sich die Gegenstände in Schreck-

*) Vgl. den bekannten, von Bonnet (Essai analytique sur l’âme. Chap. 23.)
erzählten Fall eines Greisen, der auf beiden Seiten an Cataract operirt worden
war und nur mit dem rechten Auge noch Gegenstände unterscheiden konnte. Er
hatte die lebhaftesten Gesichtshallucinationen, ohne an deren Realität zu glauben.
Bei einer Kranken, die ich hier beobachten konnte, ist Cataract beider Augen
vorhanden und ihr Irresein bewegt sich fast ganz in den vielfältigsten Gesichts-
hallucinationen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0086" n="72"/><fw place="top" type="header">Entstehung und Sitz</fw><lb/>
Fällen, wo bei Trübung der durchsichtigen Medien des Auges Ge-<lb/>
sichtshallucinationen beobachtet wurden, <note place="foot" n="*)">Vgl. den bekannten, von Bonnet (Essai analytique sur l&#x2019;âme. Chap. 23.)<lb/>
erzählten Fall eines Greisen, der auf beiden Seiten an Cataract operirt worden<lb/>
war und nur mit dem rechten Auge noch Gegenstände unterscheiden konnte. Er<lb/>
hatte die lebhaftesten Gesichtshallucinationen, ohne an deren Realität zu glauben.<lb/>
Bei einer Kranken, die ich hier beobachten konnte, ist Cataract beider Augen<lb/>
vorhanden und ihr Irresein bewegt sich fast ganz in den vielfältigsten Gesichts-<lb/>
hallucinationen.</note> wo es scheint, als ob<lb/>
jener undeutlichen, verschwommenen, streifigen, wolkigen Bilder,<lb/>
welche die Retina aufnimmt, sich die Phantasie als ihres Materials<lb/>
bemächtigte, um erst an ihnen ihre bildnerische Combination zu<lb/>
äussern. Sodann aber weisen jene nicht seltenen Fälle, wo Gesichts-<lb/>
hallucinationen durch äussere Bedeckung des Auges zum Verschwin-<lb/>
den gebracht werden konnten, weiter auf einen gewissen Antheil hin,<lb/>
den die unverletzte Retina an diesen Phänomenen nehmen kann.<lb/>
Und das Merkwürdigste endlich sind jene, unsers Wissens sehr sel-<lb/>
tenen Fälle, wo bei einer passenden Stellung des Auges die Hallu-<lb/>
cination doppelt gesehen wurde.</p><lb/>
              <p>Ein Nicht-Irrer, der an häufigen Gesichtshallucinationen litt, erhob sich eines<lb/>
Abends, da er in einem Garten sass, schnell von seinem Sitze und empfand einen<lb/>
leichten Schwindel, der gewöhnlich eintrat, wenn er schnell aufstand. Als der<lb/>
Schwindel vorüber war, sah er die Gestalt eines Mannes, der mit einem langen,<lb/>
blauen Mantel drapirt war, in geringer Entfernung unter einem Baume: nach<lb/>
1&#x2014;2 Minuten wurde die Gestalt schwächer und verschwand. Eine halbe Stunde<lb/>
später sah er dieselbe Gestalt unter demselben Baume und in der nämlichen Stel-<lb/>
lung. Er drückte, zum Versuche, den Augapfel einer Seite, ohne andern Erfolg,<lb/>
als dass die Gestalt undeutlicher wurde; aber, als er <hi rendition="#g">seine Augen schief<lb/>
stellte, sah er die Gestalt doppelt und in natürlicher Grösse</hi>. Er<lb/>
trat nun darauf los, die Gestalt entfernte sich Schritt vor Schritt und verschwand<lb/>
im Schatten eines Baumes. Patterson, l. c. p. 171. Müller bestreitet die Ansicht,<lb/>
dass die Hallucinationen in der Retina ihren Sitz haben. l. c. §. 64&#x2014;73.</p><lb/>
              <p>Fälle, wo durch Bedecken des Auges Gesichtshallucinationen aufhörten, sind<lb/>
in ziemlicher Anzahl bekannt. &#x201E;Ein junger Mensch sieht um sich alle Personen<lb/>
des Hofes; er wirft sich zu den Füssen Desjenigen, den er für den Monarchen<lb/>
hält etc.; ich lasse ihm zwei Tage die Augen verbinden, und sein Delirium hört<lb/>
auf. Nachdem die Binde abgenommen, beginnt es von Neuem&#x201C; (Esquirol). <hi rendition="#g">Reil</hi><lb/>
(Rhapsodieen) erzählt, dass eine Dame, die Gespenster und Ungeheuer sah, in<lb/>
ein Delirium mit Convulsionen verfiel und dass ihre Kammerfrau, um sie aufrecht<lb/>
zu erhalten, ihre Hand auf die Augen der Kranken legte, und diese sogleich aus-<lb/>
rief: Ich bin geheilt! &#x2014; Dieses erneuerte sich mit demselben Erfolg bei dem<lb/>
Arzte (Esquirol, übers. von Bernhard. I. p. 12). &#x2014; &#x201E;D., 75 Jahre alt, geistig<lb/>
gesund, kommt eines Tages nach Hause, erschrocken über tausend Visionen, die<lb/>
ihn verfolgen. Wohin er blickt, verwandeln sich die Gegenstände in Schreck-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0086] Entstehung und Sitz Fällen, wo bei Trübung der durchsichtigen Medien des Auges Ge- sichtshallucinationen beobachtet wurden, *) wo es scheint, als ob jener undeutlichen, verschwommenen, streifigen, wolkigen Bilder, welche die Retina aufnimmt, sich die Phantasie als ihres Materials bemächtigte, um erst an ihnen ihre bildnerische Combination zu äussern. Sodann aber weisen jene nicht seltenen Fälle, wo Gesichts- hallucinationen durch äussere Bedeckung des Auges zum Verschwin- den gebracht werden konnten, weiter auf einen gewissen Antheil hin, den die unverletzte Retina an diesen Phänomenen nehmen kann. Und das Merkwürdigste endlich sind jene, unsers Wissens sehr sel- tenen Fälle, wo bei einer passenden Stellung des Auges die Hallu- cination doppelt gesehen wurde. Ein Nicht-Irrer, der an häufigen Gesichtshallucinationen litt, erhob sich eines Abends, da er in einem Garten sass, schnell von seinem Sitze und empfand einen leichten Schwindel, der gewöhnlich eintrat, wenn er schnell aufstand. Als der Schwindel vorüber war, sah er die Gestalt eines Mannes, der mit einem langen, blauen Mantel drapirt war, in geringer Entfernung unter einem Baume: nach 1—2 Minuten wurde die Gestalt schwächer und verschwand. Eine halbe Stunde später sah er dieselbe Gestalt unter demselben Baume und in der nämlichen Stel- lung. Er drückte, zum Versuche, den Augapfel einer Seite, ohne andern Erfolg, als dass die Gestalt undeutlicher wurde; aber, als er seine Augen schief stellte, sah er die Gestalt doppelt und in natürlicher Grösse. Er trat nun darauf los, die Gestalt entfernte sich Schritt vor Schritt und verschwand im Schatten eines Baumes. Patterson, l. c. p. 171. Müller bestreitet die Ansicht, dass die Hallucinationen in der Retina ihren Sitz haben. l. c. §. 64—73. Fälle, wo durch Bedecken des Auges Gesichtshallucinationen aufhörten, sind in ziemlicher Anzahl bekannt. „Ein junger Mensch sieht um sich alle Personen des Hofes; er wirft sich zu den Füssen Desjenigen, den er für den Monarchen hält etc.; ich lasse ihm zwei Tage die Augen verbinden, und sein Delirium hört auf. Nachdem die Binde abgenommen, beginnt es von Neuem“ (Esquirol). Reil (Rhapsodieen) erzählt, dass eine Dame, die Gespenster und Ungeheuer sah, in ein Delirium mit Convulsionen verfiel und dass ihre Kammerfrau, um sie aufrecht zu erhalten, ihre Hand auf die Augen der Kranken legte, und diese sogleich aus- rief: Ich bin geheilt! — Dieses erneuerte sich mit demselben Erfolg bei dem Arzte (Esquirol, übers. von Bernhard. I. p. 12). — „D., 75 Jahre alt, geistig gesund, kommt eines Tages nach Hause, erschrocken über tausend Visionen, die ihn verfolgen. Wohin er blickt, verwandeln sich die Gegenstände in Schreck- *) Vgl. den bekannten, von Bonnet (Essai analytique sur l’âme. Chap. 23.) erzählten Fall eines Greisen, der auf beiden Seiten an Cataract operirt worden war und nur mit dem rechten Auge noch Gegenstände unterscheiden konnte. Er hatte die lebhaftesten Gesichtshallucinationen, ohne an deren Realität zu glauben. Bei einer Kranken, die ich hier beobachten konnte, ist Cataract beider Augen vorhanden und ihr Irresein bewegt sich fast ganz in den vielfältigsten Gesichts- hallucinationen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/86
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/86>, abgerufen am 04.12.2024.