Grillparzer, Franz: Sappho. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Wien, 1819.
Liegt brütend, süß und peinigend zugleich, Ein schwerer Nebel über meinen Sinnen, Den der Gedanken fernes Wetterleuchten, Jetzt hier, jetzt dort, und jetzt schon nicht mehr da, In quälender Verwirrung rasch durchzuckt. Ein Schleyer deckt mir die Vergangenheit, Kaum kann ich heut des Gestern mich erinnern, Kaum in der jetz'gen Stund' der erst geschied'nen. Ich frage mich: Warst du's denn wirklich selber, Der in Olympia stand an ihrer Seite? An ihrer Seite in des Siegs Triumph? War es dein Nahme den des Volkes Jubel, Vermischt mit ihrem, in die Lüfte rief? Ja, sagt mir alles, und doch glaub' ich's kaum! Was für ein ärmlich Wesen ist der Mensch, Wenn, was als Hoffnung seine Sinne weckte, Ihm als Erfüllung sie in Schlaf versenkt! Als ich sie noch nicht sah und kannte, nur Die Phantasie ihr schlechtgetroffnes Bild In graue Nebel noch verfließend mahlte, Da schien mir's leicht für einen Blick von ihr, Ein güt'ges Wort, das Leben hinzuwerfen; Und jetzt, da sie nun mein ist, mir gehört, Da meiner Wünsche winterliche Raupen Als gold'ne Schmetterlinge mich umspielen, Jetzt frag' ich noch, und steh' und sinn' und zaud're! Weh! ich vergesse hier mich selber noch Und sie und Aeltern und --
Liegt brütend, ſüß und peinigend zugleich, Ein ſchwerer Nebel über meinen Sinnen, Den der Gedanken fernes Wetterleuchten, Jetzt hier, jetzt dort, und jetzt ſchon nicht mehr da, In quälender Verwirrung raſch durchzuckt. Ein Schleyer deckt mir die Vergangenheit, Kaum kann ich heut des Geſtern mich erinnern, Kaum in der jetz'gen Stund' der erſt geſchied'nen. Ich frage mich: Warſt du's denn wirklich ſelber, Der in Olympia ſtand an ihrer Seite? An ihrer Seite in des Siegs Triumph? War es dein Nahme den des Volkes Jubel, Vermiſcht mit ihrem, in die Lüfte rief? Ja, ſagt mir alles, und doch glaub' ich's kaum! Was für ein ärmlich Weſen iſt der Menſch, Wenn, was als Hoffnung ſeine Sinne weckte, Ihm als Erfüllung ſie in Schlaf verſenkt! Als ich ſie noch nicht ſah und kannte, nur Die Phantaſie ihr ſchlechtgetroffnes Bild In graue Nebel noch verfließend mahlte, Da ſchien mir's leicht für einen Blick von ihr, Ein güt'ges Wort, das Leben hinzuwerfen; Und jetzt, da ſie nun mein iſt, mir gehört, Da meiner Wünſche winterliche Raupen Als gold'ne Schmetterlinge mich umſpielen, Jetzt frag' ich noch, und ſteh' und ſinn' und zaud're! Weh! ich vergeſſe hier mich ſelber noch Und ſie und Aeltern und — <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#PHA"> <p><pb facs="#f0038" n="28"/> Liegt brütend, ſüß und peinigend zugleich,<lb/> Ein ſchwerer Nebel über meinen Sinnen,<lb/> Den der Gedanken fernes Wetterleuchten,<lb/> Jetzt hier, jetzt dort, und jetzt ſchon nicht mehr da,<lb/> In quälender Verwirrung raſch durchzuckt.<lb/> Ein Schleyer deckt mir die Vergangenheit,<lb/> Kaum kann ich heut des Geſtern mich erinnern,<lb/> Kaum in der jetz'gen Stund' der erſt geſchied'nen.<lb/> Ich frage mich: Warſt du's denn wirklich ſelber,<lb/> Der in Olympia ſtand an ihrer Seite?<lb/> An ihrer Seite in des Siegs Triumph?<lb/> War es dein Nahme den des Volkes Jubel,<lb/> Vermiſcht mit ihrem, in die Lüfte rief?<lb/> Ja, ſagt mir alles, und doch glaub' ich's kaum!<lb/> Was für ein ärmlich Weſen iſt der Menſch,<lb/> Wenn, was als Hoffnung ſeine Sinne weckte,<lb/> Ihm als Erfüllung ſie in Schlaf verſenkt!<lb/> Als ich ſie noch nicht ſah und kannte, nur<lb/> Die Phantaſie ihr ſchlechtgetroffnes Bild<lb/> In graue Nebel noch verfließend mahlte,<lb/> Da ſchien mir's leicht für einen Blick von ihr,<lb/> Ein güt'ges Wort, das Leben hinzuwerfen;<lb/> Und jetzt, da ſie nun mein iſt, mir gehört,<lb/> Da meiner Wünſche winterliche Raupen<lb/> Als gold'ne Schmetterlinge mich umſpielen,<lb/> Jetzt frag' ich noch, und ſteh' und ſinn' und zaud're!</p><lb/> <p>Weh! ich vergeſſe hier mich ſelber noch<lb/> Und ſie und Aeltern und —</p><lb/> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [28/0038]
Liegt brütend, ſüß und peinigend zugleich,
Ein ſchwerer Nebel über meinen Sinnen,
Den der Gedanken fernes Wetterleuchten,
Jetzt hier, jetzt dort, und jetzt ſchon nicht mehr da,
In quälender Verwirrung raſch durchzuckt.
Ein Schleyer deckt mir die Vergangenheit,
Kaum kann ich heut des Geſtern mich erinnern,
Kaum in der jetz'gen Stund' der erſt geſchied'nen.
Ich frage mich: Warſt du's denn wirklich ſelber,
Der in Olympia ſtand an ihrer Seite?
An ihrer Seite in des Siegs Triumph?
War es dein Nahme den des Volkes Jubel,
Vermiſcht mit ihrem, in die Lüfte rief?
Ja, ſagt mir alles, und doch glaub' ich's kaum!
Was für ein ärmlich Weſen iſt der Menſch,
Wenn, was als Hoffnung ſeine Sinne weckte,
Ihm als Erfüllung ſie in Schlaf verſenkt!
Als ich ſie noch nicht ſah und kannte, nur
Die Phantaſie ihr ſchlechtgetroffnes Bild
In graue Nebel noch verfließend mahlte,
Da ſchien mir's leicht für einen Blick von ihr,
Ein güt'ges Wort, das Leben hinzuwerfen;
Und jetzt, da ſie nun mein iſt, mir gehört,
Da meiner Wünſche winterliche Raupen
Als gold'ne Schmetterlinge mich umſpielen,
Jetzt frag' ich noch, und ſteh' und ſinn' und zaud're!
Weh! ich vergeſſe hier mich ſelber noch
Und ſie und Aeltern und —
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