Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

Bild:
<< vorherige Seite

ERSTES BUCH.
VON DEN BUCHSTABEN.

Vorbemerkungen. 1) Paläographische betrachtungen
und untersuchungen der äußeren gestalt der buchstaben
gehören in die diplomatik. Die angenommene herlei-
tung der runenschrift aus den lateinischen oder griechi-
schen buchstaben, so wie die einschränkung der runen
auf bloß Skandinavien, muß bei gründlicher forschung
schwinden. Weder die runen noch selbst die gothischen
buchstaben laßen sich hinreichend oder vollständig auf
das lateinische und griechische alphabet zurückführen;
der hauptbeweis dieses satzes fließt theils aus der über-
einstimmung der gothischen o, u, q, v. th und des
zweimahl nebengestrichenen f mit den runischen zei-
chen, theils aus der merklichen verschiedenheit der säch-
sischen und markomannischen runen von den nordi-
schen. Ein solches zerfallen der runen in grundver-
wandte, jedoch eigenthümlich gestaltete und nicht wohl
auseinander herzuführende arten deutet ja wie bei der
sprache selbst, die sich in stets ähnliche und stets unähn-
liche stämme verbreitet, auf einen weit feineren, leben-
digeren organismus und auf ein höheres alter der runen-
schrift, als man bei der anderen mechanischen erklä-
rungsweise folgern dürfte. Die einzelnen runen tragen
alte, gleichfalls einstimmige und abweichende namen, in
deren wurzel der vocal oder in deren anfang der con-
sonant steht, dem sie gebühren. Das und noch mehr
der inhalt oder sinn dieser namen, selbst die von alten
dichtern hinein gelegte, vielleicht auch traditionell fort-
gepflanzte auslegung derselben bestätigen den zusammen-
hang der runen mit einer früheren heidnischen zeit.

A

ERSTES BUCH.
VON DEN BUCHSTABEN.

Vorbemerkungen. 1) Paläographiſche betrachtungen
und unterſuchungen der äußeren geſtalt der buchſtaben
gehören in die diplomatik. Die angenommene herlei-
tung der runenſchrift aus den lateiniſchen oder griechi-
ſchen buchſtaben, ſo wie die einſchränkung der runen
auf bloß Skandinavien, muß bei gründlicher forſchung
ſchwinden. Weder die runen noch ſelbſt die gothiſchen
buchſtaben laßen ſich hinreichend oder vollſtändig auf
das lateiniſche und griechiſche alphabet zurückführen;
der hauptbeweis dieſes ſatzes fließt theils aus der über-
einſtimmung der gothiſchen o, u, q, v. þ und des
zweimahl nebengeſtrichenen f mit den runiſchen zei-
chen, theils aus der merklichen verſchiedenheit der ſäch-
ſiſchen und markomanniſchen runen von den nordi-
ſchen. Ein ſolches zerfallen der runen in grundver-
wandte, jedoch eigenthümlich geſtaltete und nicht wohl
auseinander herzuführende arten deutet ja wie bei der
ſprache ſelbſt, die ſich in ſtets ähnliche und ſtets unähn-
liche ſtämme verbreitet, auf einen weit feineren, leben-
digeren organiſmus und auf ein höheres alter der runen-
ſchrift, als man bei der anderen mechaniſchen erklä-
rungsweiſe folgern dürfte. Die einzelnen runen tragen
alte, gleichfalls einſtimmige und abweichende namen, in
deren wurzel der vocal oder in deren anfang der con-
ſonant ſteht, dem ſie gebühren. Das und noch mehr
der inhalt oder ſinn dieſer namen, ſelbſt die von alten
dichtern hinein gelegte, vielleicht auch traditionell fort-
gepflanzte auslegung derſelben beſtätigen den zuſammen-
hang der runen mit einer früheren heidniſchen zeit.

A
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0027" n="[1]"/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      <div n="1">
        <head><hi rendition="#g">ERSTES BUCH</hi>.<lb/><hi rendition="#g">VON DEN BUCHSTABEN</hi>.</head><lb/>
        <p><hi rendition="#i">Vorbemerkungen.</hi> 1) Paläographi&#x017F;che betrachtungen<lb/>
und unter&#x017F;uchungen der äußeren ge&#x017F;talt der buch&#x017F;taben<lb/>
gehören in die diplomatik. Die angenommene herlei-<lb/>
tung der runen&#x017F;chrift aus den lateini&#x017F;chen oder griechi-<lb/>
&#x017F;chen buch&#x017F;taben, &#x017F;o wie die ein&#x017F;chränkung der runen<lb/>
auf bloß Skandinavien, muß bei gründlicher for&#x017F;chung<lb/>
&#x017F;chwinden. Weder die runen noch &#x017F;elb&#x017F;t die gothi&#x017F;chen<lb/>
buch&#x017F;taben laßen &#x017F;ich hinreichend oder voll&#x017F;tändig auf<lb/>
das lateini&#x017F;che und griechi&#x017F;che alphabet zurückführen;<lb/>
der hauptbeweis die&#x017F;es &#x017F;atzes fließt theils aus der über-<lb/>
ein&#x017F;timmung der gothi&#x017F;chen o, u, q, v. þ und des<lb/>
zweimahl nebenge&#x017F;trichenen f mit den runi&#x017F;chen zei-<lb/>
chen, theils aus der merklichen ver&#x017F;chiedenheit der &#x017F;äch-<lb/>
&#x017F;i&#x017F;chen und markomanni&#x017F;chen runen von den nordi-<lb/>
&#x017F;chen. Ein &#x017F;olches zerfallen der runen in grundver-<lb/>
wandte, jedoch eigenthümlich ge&#x017F;taltete und nicht wohl<lb/>
auseinander herzuführende arten deutet ja wie bei der<lb/>
&#x017F;prache &#x017F;elb&#x017F;t, die &#x017F;ich in &#x017F;tets ähnliche und &#x017F;tets unähn-<lb/>
liche &#x017F;tämme verbreitet, auf einen weit feineren, leben-<lb/>
digeren organi&#x017F;mus und auf ein höheres alter der runen-<lb/>
&#x017F;chrift, als man bei der anderen mechani&#x017F;chen erklä-<lb/>
rungswei&#x017F;e folgern dürfte. Die einzelnen runen tragen<lb/>
alte, gleichfalls ein&#x017F;timmige und abweichende namen, in<lb/>
deren wurzel der vocal oder in deren anfang der con-<lb/>
&#x017F;onant &#x017F;teht, dem &#x017F;ie gebühren. Das und noch mehr<lb/>
der inhalt oder &#x017F;inn die&#x017F;er namen, &#x017F;elb&#x017F;t die von alten<lb/>
dichtern hinein gelegte, vielleicht auch traditionell fort-<lb/>
gepflanzte auslegung der&#x017F;elben be&#x017F;tätigen den zu&#x017F;ammen-<lb/>
hang der runen mit einer früheren heidni&#x017F;chen zeit.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">A</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[1]/0027] ERSTES BUCH. VON DEN BUCHSTABEN. Vorbemerkungen. 1) Paläographiſche betrachtungen und unterſuchungen der äußeren geſtalt der buchſtaben gehören in die diplomatik. Die angenommene herlei- tung der runenſchrift aus den lateiniſchen oder griechi- ſchen buchſtaben, ſo wie die einſchränkung der runen auf bloß Skandinavien, muß bei gründlicher forſchung ſchwinden. Weder die runen noch ſelbſt die gothiſchen buchſtaben laßen ſich hinreichend oder vollſtändig auf das lateiniſche und griechiſche alphabet zurückführen; der hauptbeweis dieſes ſatzes fließt theils aus der über- einſtimmung der gothiſchen o, u, q, v. þ und des zweimahl nebengeſtrichenen f mit den runiſchen zei- chen, theils aus der merklichen verſchiedenheit der ſäch- ſiſchen und markomanniſchen runen von den nordi- ſchen. Ein ſolches zerfallen der runen in grundver- wandte, jedoch eigenthümlich geſtaltete und nicht wohl auseinander herzuführende arten deutet ja wie bei der ſprache ſelbſt, die ſich in ſtets ähnliche und ſtets unähn- liche ſtämme verbreitet, auf einen weit feineren, leben- digeren organiſmus und auf ein höheres alter der runen- ſchrift, als man bei der anderen mechaniſchen erklä- rungsweiſe folgern dürfte. Die einzelnen runen tragen alte, gleichfalls einſtimmige und abweichende namen, in deren wurzel der vocal oder in deren anfang der con- ſonant ſteht, dem ſie gebühren. Das und noch mehr der inhalt oder ſinn dieſer namen, ſelbſt die von alten dichtern hinein gelegte, vielleicht auch traditionell fort- gepflanzte auslegung derſelben beſtätigen den zuſammen- hang der runen mit einer früheren heidniſchen zeit. A

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/27
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/27>, abgerufen am 21.11.2024.