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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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VORREDE.

Der zweite theil meines werks liefert nur drei,
freilich aber die wichtigsten capitel des dritten buchs,
so daß alles, was noch davon übrig ist, und die ganze
syntax, für die folge aufgehoben bleiben. Ich war an-
fangs entschloßen, die gesamte wortbildungslehre in einen
band zu faßen, daher man auch die beiden ersten capitel
gedrängter und enthaltsamer abgehandelt finden wird; so-
bald ich die unmöglichkeit einsah, jenen vorsatz auszu-
führen, fieng ich an, mich mehr gehen zu laßen, die
zusammensetzungen sind darum weitläuftiger, oder wenn
man will, vollständiger bearbeitet worden, als sonst hätte
geschehen können. Allein selbst ohne dieses zufällige ver-
hältnis würde in jedweder untersuchung der deutschen
wortbildungen die derivation beträchtlich geringeren raum
einnehmen, als die composition, wofür sprache und sprach-
geschichte den reichsten stoff darbietet. Es ist bei der
letztern auch leichter grund zu spüren, als bei dem dun-
keln, oft nur in einzelnen, sparsamen erscheinungen vor-
blickenden gesetz, das die ableitungen regiert. Das erste
capitel beschäftigt sich mit einem bisher unbeachteten
gegenstand und bedarf vor allen vielfältiger berichtigung
und erweiterung. Wird das ganze buch jemahls einer
umarbeitung, wozu es sich beinahe verhalten möchte, wie
zu der zweiten ausgabe des ersten theils die erste, theil-
haftig und ist überhaupt der gedanke, daß die wesentliche
form unserer starken conjugation alle anderen wortbildun-
gen durchdringt, es werth, größer gezogen zu werden;
so muß diese lehre, und was sich alles aus ihr folgern
läßt, ungleich reichhaltiger ausfallen. Das neueste in den
beiden andern capiteln dürfte mein versuch sein, manche
dunkle wortbildungen aus dem wegfall des bildenden a
und der davor stehenden spirans zu deuten, so wie die
eintheilung der zusammensetzungen in eigentliche und
uneigentliche.

Die deutsche grammatik befindet sich jetzt in einem,
vor kurzem noch ungeahnten, zustande der aufregung,
wozu zwei an sich völlig verschiedene ursachen mit-
wirken.

Nachdem das studium der orientalischen sprachen, so
lehrreich und lohnend es an sich selbst sein mag, in un-
mittelbarer beziehung auf die europäischen immer un-
fruchtbar geblieben war, ist nunmehr endlich die reihe

VORREDE.

Der zweite theil meines werks liefert nur drei,
freilich aber die wichtigſten capitel des dritten buchs,
ſo daß alles, was noch davon übrig iſt, und die ganze
ſyntax, für die folge aufgehoben bleiben. Ich war an-
fangs entſchloßen, die geſamte wortbildungslehre in einen
band zu faßen, daher man auch die beiden erſten capitel
gedrängter und enthaltſamer abgehandelt finden wird; ſo-
bald ich die unmöglichkeit einſah, jenen vorſatz auszu-
führen, fieng ich an, mich mehr gehen zu laßen, die
zuſammenſetzungen ſind darum weitläuftiger, oder wenn
man will, vollſtändiger bearbeitet worden, als ſonſt hätte
geſchehen können. Allein ſelbſt ohne dieſes zufällige ver-
hältnis würde in jedweder unterſuchung der deutſchen
wortbildungen die derivation beträchtlich geringeren raum
einnehmen, als die compoſition, wofür ſprache und ſprach-
geſchichte den reichſten ſtoff darbietet. Es iſt bei der
letztern auch leichter grund zu ſpüren, als bei dem dun-
keln, oft nur in einzelnen, ſparſamen erſcheinungen vor-
blickenden geſetz, das die ableitungen regiert. Das erſte
capitel beſchäftigt ſich mit einem bisher unbeachteten
gegenſtand und bedarf vor allen vielfältiger berichtigung
und erweiterung. Wird das ganze buch jemahls einer
umarbeitung, wozu es ſich beinahe verhalten möchte, wie
zu der zweiten ausgabe des erſten theils die erſte, theil-
haftig und iſt überhaupt der gedanke, daß die weſentliche
form unſerer ſtarken conjugation alle anderen wortbildun-
gen durchdringt, es werth, größer gezogen zu werden;
ſo muß dieſe lehre, und was ſich alles aus ihr folgern
läßt, ungleich reichhaltiger ausfallen. Das neueſte in den
beiden andern capiteln dürfte mein verſuch ſein, manche
dunkle wortbildungen aus dem wegfall des bildenden a
und der davor ſtehenden ſpirans zu deuten, ſo wie die
eintheilung der zuſammenſetzungen in eigentliche und
uneigentliche.

Die deutſche grammatik befindet ſich jetzt in einem,
vor kurzem noch ungeahnten, zuſtande der aufregung,
wozu zwei an ſich völlig verſchiedene urſachen mit-
wirken.

Nachdem das ſtudium der orientaliſchen ſprachen, ſo
lehrreich und lohnend es an ſich ſelbſt ſein mag, in un-
mittelbarer beziehung auf die europäiſchen immer un-
fruchtbar geblieben war, iſt nunmehr endlich die reihe

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. [V]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/11>, abgerufen am 21.11.2024.