Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite

III. ableitung. schlußbemerkungen.
scheinlich noch einige mehr *). Dazu halte man nun die
äußerlich gleiche wurzel tairan (nr. 326.) woraus zerjan,
zerunge, zorn, zornac, vielleicht zart, zarton, zärteln,
zartnissi abgeleitet werden kann. Hier welche beschrän-
kung, dort welche fülle; und doch sind selbst bei bairan
die möglichen ableitungen lange nicht erschöpft, wie schon
daraus folgt, daß sich unter den wenigen von tairan fast lauter
andere zeigen. Diese beispiele mögen statt aller weiteren
beweisen, daß in der ableitung, wie in der sprachbildung
überhaupt, das gesetz der analogie nie vollständig durch-
zuführen ist. Die sprache ergibt sich ihm gleichsam nur
kurze strecken, und bricht dann wieder ab, um auf eine
neue richtung einzugehn oder ganz einzuhalten. War-
um können wir dem geistig kein leibig, sondern nur das
compos. leiblich entgegensetzen, während geistlich dem
weltlich gegenübersteht und leibig nur in der verbin-
dung dickleibig gilt? Warum darf zerung, aber nicht
berung, warum durfte pireic, aber nicht zireic gesagt wer-
den? Warum mag ein dialect ableiten, wie dem andern
versagt ist? Diese einrichtungen gehören zur heimlich-
keit jeder sprache und wer z. b. anleit, einleit statt anlei-
tung, einleitung, anfangung, beginnung statt anfang be-
ginn brauchen wollte, sündigt wider die natur des hoch-
deutschen. In seltner, dichterischer anwendung können
dichter fühlbare ableitungen neu gebrauchen. Dunkle lei-
den gar keine erweiterung.

9) es ist unverkennbare richtung der späteren sprache,
die ableitungen aufzugeben und durch compositionen zu
ersetzen. Dieses bestätigt uns eben, daß jetzt erloschene
ableitungen vormahls lebendig, jetzt unverständliche oder
zweideutige vormahls fühlbar und deutlich gewesen sein
müßen. Die zusammensetzung sagt der schärferen be-
stimmung der begriffe zu, die ableitung, solange der alte,
volle accent **) ihre silben noch begleitete, war ein poe-

*) es fragt sich, ob nicht auch briggan, brahta (nr. 414.) aus
bairan hervorgehe (bair-iggan)? wofür die bedeutung spricht;
und bairhts (manifestus, offenbar)? Solche ableitungen sehen jetzt
noch verdächtig aus.
**) es gehört nicht hierher zu erörtern, welche betonung die
alten ableitungssilben hatten, wie sie sich allmählig schwächte,
endlich ganz verlor. Im nhd. sind tieftonig und zum reim taug-
lich geblieben: -ei (s. 96); -in, -inne; -ing; -ung; nis, und nicht
einmahl in jedem fall; ausnahmsweise auch einzelne wie einoede,
burgunde; untauglich sind der haftenden betonung unerachtet:
labsal, arbeit, leumund, ameise, monat. Mhd. reimen außer -eie,
C c 2

III. ableitung. ſchlußbemerkungen.
ſcheinlich noch einige mehr *). Dazu halte man nun die
äußerlich gleiche wurzel taíran (nr. 326.) woraus zerjan,
zerunge, zorn, zornac, vielleicht zart, zartôn, zärteln,
zartniſſi abgeleitet werden kann. Hier welche beſchrän-
kung, dort welche fülle; und doch ſind ſelbſt bei baíran
die möglichen ableitungen lange nicht erſchöpft, wie ſchon
daraus folgt, daß ſich unter den wenigen von taíran faſt lauter
andere zeigen. Dieſe beiſpiele mögen ſtatt aller weiteren
beweiſen, daß in der ableitung, wie in der ſprachbildung
überhaupt, das geſetz der analogie nie vollſtändig durch-
zuführen iſt. Die ſprache ergibt ſich ihm gleichſam nur
kurze ſtrecken, und bricht dann wieder ab, um auf eine
neue richtung einzugehn oder ganz einzuhalten. War-
um können wir dem geiſtig kein leibig, ſondern nur das
compoſ. leiblich entgegenſetzen, während geiſtlich dem
weltlich gegenüberſteht und leibig nur in der verbin-
dung dickleibig gilt? Warum darf zerung, aber nicht
berung, warum durfte pirîc, aber nicht zirîc geſagt wer-
den? Warum mag ein dialect ableiten, wie dem andern
verſagt iſt? Dieſe einrichtungen gehören zur heimlich-
keit jeder ſprache und wer z. b. anleit, einleit ſtatt anlei-
tung, einleitung, anfangung, beginnung ſtatt anfang be-
ginn brauchen wollte, ſündigt wider die natur des hoch-
deutſchen. In ſeltner, dichteriſcher anwendung können
dichter fühlbare ableitungen neu gebrauchen. Dunkle lei-
den gar keine erweiterung.

9) es iſt unverkennbare richtung der ſpäteren ſprache,
die ableitungen aufzugeben und durch compoſitionen zu
erſetzen. Dieſes beſtätigt uns eben, daß jetzt erloſchene
ableitungen vormahls lebendig, jetzt unverſtändliche oder
zweideutige vormahls fühlbar und deutlich geweſen ſein
müßen. Die zuſammenſetzung ſagt der ſchärferen be-
ſtimmung der begriffe zu, die ableitung, ſolange der alte,
volle accent **) ihre ſilben noch begleitete, war ein poe-

*) es fragt ſich, ob nicht auch briggan, brahta (nr. 414.) aus
bairan hervorgehe (baír-iggan)? wofür die bedeutung ſpricht;
und bairhts (manifeſtus, offenbar)? Solche ableitungen ſehen jetzt
noch verdächtig aus.
**) es gehört nicht hierher zu erörtern, welche betonung die
alten ableitungsſilben hatten, wie ſie ſich allmählig ſchwächte,
endlich ganz verlor. Im nhd. ſind tieftonig und zum reim taug-
lich geblieben: -ei (ſ. 96); -in, -inne; -ing; -ung; nis, und nicht
einmahl in jedem fall; ausnahmsweiſe auch einzelne wie einœde,
burgunde; untauglich ſind der haftenden betonung unerachtet:
lábſàl, árbeìt, léumùnd, ámeìſe, mónàt. Mhd. reimen außer -îe,
C c 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0421" n="403"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">III. <hi rendition="#i">ableitung. &#x017F;chlußbemerkungen.</hi></hi></fw><lb/>
&#x017F;cheinlich noch einige mehr <note place="foot" n="*)">es fragt &#x017F;ich, ob nicht auch briggan, brahta (nr. 414.) aus<lb/>
bairan hervorgehe (baír-iggan)? wofür die bedeutung &#x017F;pricht;<lb/>
und bairhts (manife&#x017F;tus, offenbar)? Solche ableitungen &#x017F;ehen jetzt<lb/>
noch verdächtig aus.</note>. Dazu halte man nun die<lb/>
äußerlich gleiche wurzel taíran (nr. 326.) woraus zerjan,<lb/>
zerunge, zorn, zornac, vielleicht zart, zartôn, zärteln,<lb/>
zartni&#x017F;&#x017F;i abgeleitet werden kann. Hier welche be&#x017F;chrän-<lb/>
kung, dort welche fülle; und doch &#x017F;ind &#x017F;elb&#x017F;t bei baíran<lb/>
die möglichen ableitungen lange nicht er&#x017F;chöpft, wie &#x017F;chon<lb/>
daraus folgt, daß &#x017F;ich unter den wenigen von taíran fa&#x017F;t lauter<lb/>
andere zeigen. Die&#x017F;e bei&#x017F;piele mögen &#x017F;tatt aller weiteren<lb/>
bewei&#x017F;en, daß in der ableitung, wie in der &#x017F;prachbildung<lb/>
überhaupt, das ge&#x017F;etz der analogie nie voll&#x017F;tändig durch-<lb/>
zuführen i&#x017F;t. Die &#x017F;prache ergibt &#x017F;ich ihm gleich&#x017F;am nur<lb/>
kurze &#x017F;trecken, und bricht dann wieder ab, um auf eine<lb/>
neue richtung einzugehn oder ganz einzuhalten. War-<lb/>
um können wir dem gei&#x017F;tig kein leibig, &#x017F;ondern nur das<lb/>
compo&#x017F;. leiblich entgegen&#x017F;etzen, während gei&#x017F;tlich dem<lb/>
weltlich gegenüber&#x017F;teht und leibig nur in der verbin-<lb/>
dung dickleibig gilt? Warum darf zerung, aber nicht<lb/>
berung, warum durfte pirîc, aber nicht zirîc ge&#x017F;agt wer-<lb/>
den? Warum mag ein dialect ableiten, wie dem andern<lb/>
ver&#x017F;agt i&#x017F;t? Die&#x017F;e einrichtungen gehören zur heimlich-<lb/>
keit jeder &#x017F;prache und wer z. b. anleit, einleit &#x017F;tatt anlei-<lb/>
tung, einleitung, anfangung, beginnung &#x017F;tatt anfang be-<lb/>
ginn brauchen wollte, &#x017F;ündigt wider die natur des hoch-<lb/>
deut&#x017F;chen. In &#x017F;eltner, dichteri&#x017F;cher anwendung können<lb/>
dichter fühlbare ableitungen neu gebrauchen. Dunkle lei-<lb/>
den gar keine erweiterung.</p><lb/>
            <p>9) es i&#x017F;t unverkennbare richtung der &#x017F;päteren &#x017F;prache,<lb/>
die ableitungen aufzugeben und durch compo&#x017F;itionen zu<lb/>
er&#x017F;etzen. Die&#x017F;es be&#x017F;tätigt uns eben, daß jetzt erlo&#x017F;chene<lb/>
ableitungen vormahls lebendig, jetzt unver&#x017F;tändliche oder<lb/>
zweideutige vormahls fühlbar und deutlich gewe&#x017F;en &#x017F;ein<lb/>
müßen. Die zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung &#x017F;agt der &#x017F;chärferen be-<lb/>
&#x017F;timmung der begriffe zu, die ableitung, &#x017F;olange der alte,<lb/>
volle accent <note xml:id="note-0421" next="#note-0422" place="foot" n="**)">es gehört nicht hierher zu erörtern, welche betonung die<lb/>
alten ableitungs&#x017F;ilben hatten, wie &#x017F;ie &#x017F;ich allmählig &#x017F;chwächte,<lb/>
endlich ganz verlor. Im nhd. &#x017F;ind tieftonig und zum reim taug-<lb/>
lich geblieben: -ei (&#x017F;. 96); -in, -inne; -ing; -ung; nis, und nicht<lb/>
einmahl in jedem fall; ausnahmswei&#x017F;e auch einzelne wie ein&#x0153;de,<lb/>
burgunde; untauglich &#x017F;ind der haftenden betonung unerachtet:<lb/>
láb&#x017F;àl, árbeìt, léumùnd, ámeì&#x017F;e, mónàt. Mhd. reimen außer -îe,</note> ihre &#x017F;ilben noch begleitete, war ein poe-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C c 2</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[403/0421] III. ableitung. ſchlußbemerkungen. ſcheinlich noch einige mehr *). Dazu halte man nun die äußerlich gleiche wurzel taíran (nr. 326.) woraus zerjan, zerunge, zorn, zornac, vielleicht zart, zartôn, zärteln, zartniſſi abgeleitet werden kann. Hier welche beſchrän- kung, dort welche fülle; und doch ſind ſelbſt bei baíran die möglichen ableitungen lange nicht erſchöpft, wie ſchon daraus folgt, daß ſich unter den wenigen von taíran faſt lauter andere zeigen. Dieſe beiſpiele mögen ſtatt aller weiteren beweiſen, daß in der ableitung, wie in der ſprachbildung überhaupt, das geſetz der analogie nie vollſtändig durch- zuführen iſt. Die ſprache ergibt ſich ihm gleichſam nur kurze ſtrecken, und bricht dann wieder ab, um auf eine neue richtung einzugehn oder ganz einzuhalten. War- um können wir dem geiſtig kein leibig, ſondern nur das compoſ. leiblich entgegenſetzen, während geiſtlich dem weltlich gegenüberſteht und leibig nur in der verbin- dung dickleibig gilt? Warum darf zerung, aber nicht berung, warum durfte pirîc, aber nicht zirîc geſagt wer- den? Warum mag ein dialect ableiten, wie dem andern verſagt iſt? Dieſe einrichtungen gehören zur heimlich- keit jeder ſprache und wer z. b. anleit, einleit ſtatt anlei- tung, einleitung, anfangung, beginnung ſtatt anfang be- ginn brauchen wollte, ſündigt wider die natur des hoch- deutſchen. In ſeltner, dichteriſcher anwendung können dichter fühlbare ableitungen neu gebrauchen. Dunkle lei- den gar keine erweiterung. 9) es iſt unverkennbare richtung der ſpäteren ſprache, die ableitungen aufzugeben und durch compoſitionen zu erſetzen. Dieſes beſtätigt uns eben, daß jetzt erloſchene ableitungen vormahls lebendig, jetzt unverſtändliche oder zweideutige vormahls fühlbar und deutlich geweſen ſein müßen. Die zuſammenſetzung ſagt der ſchärferen be- ſtimmung der begriffe zu, die ableitung, ſolange der alte, volle accent **) ihre ſilben noch begleitete, war ein poe- *) es fragt ſich, ob nicht auch briggan, brahta (nr. 414.) aus bairan hervorgehe (baír-iggan)? wofür die bedeutung ſpricht; und bairhts (manifeſtus, offenbar)? Solche ableitungen ſehen jetzt noch verdächtig aus. **) es gehört nicht hierher zu erörtern, welche betonung die alten ableitungsſilben hatten, wie ſie ſich allmählig ſchwächte, endlich ganz verlor. Im nhd. ſind tieftonig und zum reim taug- lich geblieben: -ei (ſ. 96); -in, -inne; -ing; -ung; nis, und nicht einmahl in jedem fall; ausnahmsweiſe auch einzelne wie einœde, burgunde; untauglich ſind der haftenden betonung unerachtet: lábſàl, árbeìt, léumùnd, ámeìſe, mónàt. Mhd. reimen außer -îe, C c 2

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/421
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/421>, abgerufen am 25.11.2024.