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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. zusammensetzung. vorbemerkungen.
daß dadurch begriffe leichter und schöner, als es sonst
geschehen kann, ausgedrückt werden. Nothwendigkeit
liegt nicht darin; eine sprache ohne alle zusammensetzung
wäre denkbar, so gut wie die meisten deutschen compo-
sita z. b. ins französische nicht durch composita übertra-
gen werden können. Aber welche begriffe hat die com-
position auszudrücken? sicher solche nicht, für welche
der sprache schon ein anderes, ebenso bündiges mittel
zusteht, ich meine die flexion. Da der Gothe sagen kann
thairko nethlos Marc. 10. 25. slahs lofin (Rapisma) Joh. 18,
22. 19, 3., wozu soll er hier componieren? Hingegen
wenn das, wofür es der sprache an einem wort, an einer
ableitung fehlt, oder was durch adjectiva, praepositionen
und andere partikeln umschrieben werden müste, zu bezeich-
nen ist, dann findet die eigentliche zusammensetzung ihre stelle.
Z. b. es gibt kein deutsches simplex oder derivatum für am-
pelos, klema, staphule
, folglich wird componiert goth. vei-
na-triu, veina-tains, veina-basi, wie nhd. wein-stock, wein-
rebe, wein-beere; hier ist kein bloßes casus noch praeposi-
tionenverhältnis, der weinstock kein stock des weins, sondern
ein stock, der wein trägt. Unter tag-stern soll nicht ein
stern des tages, unter donner-gott nicht ein gott des don-
ners verstanden werden, vielmehr der den tag brin-
gende, bei tagsanbruch leuchtende stern, der donnernde
gott. Feuer-roth, gras-grün vergleichen: roth wie feuer,
grün wie gras. Als formelles kennzeichen dieser eigent-
lichen
zusammensetzung betrachte ich nun, daß ursprüng-
lich das erste wort an das zweite durch einen composi-
tionsvocal
geheftet wurde, der für etwas eigenthümli-
ches und für keinen flexionsvocal zu nehmen ist. Er er-
scheint aber nur noch im goth. und ahd. und verschwin-
det nachher; die spätern und übrigen ältern dialecte ken-
nen ihn kaum mehr, sondern fügen das erste wort, wie
es uns vorkommt, geradezu an das andere, bei der un-
tersuchung muß aber jener vocal im geiste hinzugedacht
werden. Diese eigentliche composition ist die älteste, an-
fänglich wohl die einzige art. Allmählig erzeugt und ver-
breitet sich aber eine uneigentliche, die nämlich, welche
unmittelbar anstoßende casus und partikeln, wie sie der
alten freien construction gemäß waren, gleichsam aus die-
ser zieht und mit dem zweiten worte verbindet. Solche
composita gelten dann für den bestimmten begriff, den
die construction mit sich brachte, z. b. tages-licht, don-
ners-tag ist das licht des tages (lux diei), der tag des
donnergotts (dies jovis). Der umfang aller uneigentli-

III. zuſammenſetzung. vorbemerkungen.
daß dadurch begriffe leichter und ſchöner, als es ſonſt
geſchehen kann, ausgedrückt werden. Nothwendigkeit
liegt nicht darin; eine ſprache ohne alle zuſammenſetzung
wäre denkbar, ſo gut wie die meiſten deutſchen compo-
ſita z. b. ins franzöſiſche nicht durch compoſita übertra-
gen werden können. Aber welche begriffe hat die com-
poſition auszudrücken? ſicher ſolche nicht, für welche
der ſprache ſchon ein anderes, ebenſo bündiges mittel
zuſteht, ich meine die flexion. Da der Gothe ſagen kann
þaírkô nêþlôs Marc. 10. 25. ſlahs lôfin (ῥάπισμα) Joh. 18,
22. 19, 3., wozu ſoll er hier componieren? Hingegen
wenn das, wofür es der ſprache an einem wort, an einer
ableitung fehlt, oder was durch adjectiva, praepoſitionen
und andere partikeln umſchrieben werden müſte, zu bezeich-
nen iſt, dann findet die eigentliche zuſammenſetzung ihre ſtelle.
Z. b. es gibt kein deutſches ſimplex oder derivatum für ἄμ-
πελος, κλῆμα, σταφυλή
, folglich wird componiert goth. vei-
na-triu, veina-táins, veina-baſi, wie nhd. wein-ſtock, wein-
rebe, wein-beere; hier iſt kein bloßes caſus noch praepoſi-
tionenverhältnis, der weinſtock kein ſtock des weins, ſondern
ein ſtock, der wein trägt. Unter tag-ſtern ſoll nicht ein
ſtern des tages, unter donner-gott nicht ein gott des don-
ners verſtanden werden, vielmehr der den tag brin-
gende, bei tagsanbruch leuchtende ſtern, der donnernde
gott. Feuer-roth, gras-grün vergleichen: roth wie feuer,
grün wie gras. Als formelles kennzeichen dieſer eigent-
lichen
zuſammenſetzung betrachte ich nun, daß urſprüng-
lich das erſte wort an das zweite durch einen compoſi-
tionsvocal
geheftet wurde, der für etwas eigenthümli-
ches und für keinen flexionsvocal zu nehmen iſt. Er er-
ſcheint aber nur noch im goth. und ahd. und verſchwin-
det nachher; die ſpätern und übrigen ältern dialecte ken-
nen ihn kaum mehr, ſondern fügen das erſte wort, wie
es uns vorkommt, geradezu an das andere, bei der un-
terſuchung muß aber jener vocal im geiſte hinzugedacht
werden. Dieſe eigentliche compoſition iſt die älteſte, an-
fänglich wohl die einzige art. Allmählig erzeugt und ver-
breitet ſich aber eine uneigentliche, die nämlich, welche
unmittelbar anſtoßende caſus und partikeln, wie ſie der
alten freien conſtruction gemäß waren, gleichſam aus die-
ſer zieht und mit dem zweiten worte verbindet. Solche
compoſita gelten dann für den beſtimmten begriff, den
die conſtruction mit ſich brachte, z. b. tages-licht, don-
ners-tag iſt das licht des tages (lux diei), der tag des
donnergotts (dies jovis). Der umfang aller uneigentli-

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[408/0426] III. zuſammenſetzung. vorbemerkungen. daß dadurch begriffe leichter und ſchöner, als es ſonſt geſchehen kann, ausgedrückt werden. Nothwendigkeit liegt nicht darin; eine ſprache ohne alle zuſammenſetzung wäre denkbar, ſo gut wie die meiſten deutſchen compo- ſita z. b. ins franzöſiſche nicht durch compoſita übertra- gen werden können. Aber welche begriffe hat die com- poſition auszudrücken? ſicher ſolche nicht, für welche der ſprache ſchon ein anderes, ebenſo bündiges mittel zuſteht, ich meine die flexion. Da der Gothe ſagen kann þaírkô nêþlôs Marc. 10. 25. ſlahs lôfin (ῥάπισμα) Joh. 18, 22. 19, 3., wozu ſoll er hier componieren? Hingegen wenn das, wofür es der ſprache an einem wort, an einer ableitung fehlt, oder was durch adjectiva, praepoſitionen und andere partikeln umſchrieben werden müſte, zu bezeich- nen iſt, dann findet die eigentliche zuſammenſetzung ihre ſtelle. Z. b. es gibt kein deutſches ſimplex oder derivatum für ἄμ- πελος, κλῆμα, σταφυλή, folglich wird componiert goth. vei- na-triu, veina-táins, veina-baſi, wie nhd. wein-ſtock, wein- rebe, wein-beere; hier iſt kein bloßes caſus noch praepoſi- tionenverhältnis, der weinſtock kein ſtock des weins, ſondern ein ſtock, der wein trägt. Unter tag-ſtern ſoll nicht ein ſtern des tages, unter donner-gott nicht ein gott des don- ners verſtanden werden, vielmehr der den tag brin- gende, bei tagsanbruch leuchtende ſtern, der donnernde gott. Feuer-roth, gras-grün vergleichen: roth wie feuer, grün wie gras. Als formelles kennzeichen dieſer eigent- lichen zuſammenſetzung betrachte ich nun, daß urſprüng- lich das erſte wort an das zweite durch einen compoſi- tionsvocal geheftet wurde, der für etwas eigenthümli- ches und für keinen flexionsvocal zu nehmen iſt. Er er- ſcheint aber nur noch im goth. und ahd. und verſchwin- det nachher; die ſpätern und übrigen ältern dialecte ken- nen ihn kaum mehr, ſondern fügen das erſte wort, wie es uns vorkommt, geradezu an das andere, bei der un- terſuchung muß aber jener vocal im geiſte hinzugedacht werden. Dieſe eigentliche compoſition iſt die älteſte, an- fänglich wohl die einzige art. Allmählig erzeugt und ver- breitet ſich aber eine uneigentliche, die nämlich, welche unmittelbar anſtoßende caſus und partikeln, wie ſie der alten freien conſtruction gemäß waren, gleichſam aus die- ſer zieht und mit dem zweiten worte verbindet. Solche compoſita gelten dann für den beſtimmten begriff, den die conſtruction mit ſich brachte, z. b. tages-licht, don- ners-tag iſt das licht des tages (lux diei), der tag des donnergotts (dies jovis). Der umfang aller uneigentli-

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/426>, abgerufen am 22.11.2024.