Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite
III. decomposita.
§. 5. Decomposita (s. 410.).

Mehrfache zusammensetzung ist vorhanden, wenn über
zwei wörter miteinander verbunden sind. Der gewöhn-
liche fall ist die composition von dreien; die von vieren
ist nicht zahlreich, die von fünfen gehört zu den selten-
heiten.

I. drei wörter zusammengesetzt. Die doppelte com-
position geschieht kaum zu gleicher zeit, sondern es sind
schon zwei wörter früher miteinander verbunden, denen
sich hernach das dritte beigesellt. Bloß von einigen be-
schreibenden farbenzusammenstellungen, z. b. die roth-
blau-weiße cocarde ließe sich sagen, daß sie auf einmahl
gebildet seien; es ist aber auch mehr apposition, als com-
position. In der regel tritt nun entw. ein einfaches wort
zu einem composito (gold-bergwerk, zell-gewebe) oder
ein compositum zum einfachen (erdbeer-strauch, gewinn-
sucht). Mit hinsicht auf die zusammensetzungsweise selbst
find entw. beide compositionen eigentlich (feder-meßer-
stiel) oder beide uneigentlich (bundes-tags-sitzung) oder
die eine eigentlich, die andere uneigentlich (kuh-pocken-
impfung).

1) decomposita, beidemahl eigentlich; hier liegt der
bindungsvocal zweimahl zu grunde und müste in der äl-
testen sprache zweimahl erscheinen, etwa in hova-bota-
scaf, hova-taga-dinc, allein diese beispiele sind erfunden,
ich weiß keine zu belegen. Die goth. sprache liefert
überhaupt kein solches decompositum und die ahd.
wenige.

a) simplex und compositum: ahd. poum-werah-mei-
star (abietarius) mons. 321. eigentlich faber lignarius, vgl.
werc-meistar (faber) T. 78. trev. 42b; mhd. kar-frei-tac Parc.
108c; nhd. gold-berg-werk, kirsch-lor-beer, hof-silber-
schmid, hof-mar-schall, hof-küchen-meister, stadt-vieh-hirt,
stadt-bau-meister, rhein-schif-fahrt; hierher auch die adj.
verstärkungen wie funkel-nagel-neu, splitter-fasel-nackt etc.

b) compositum und simplex; dieser gibt es weit meh-
rere: ahd. e-wart-tuam (sacerdotium) K. 55b; heri-ginoß-
scaf (contubernium); puoh-stap-zeila (chirographum) hrab.
965b; wei-rouh-faß mons. 331; suoß-stanch-perg (liba-
nus) N. 91, 13; sito-vang-irre (schismaticus) N. 22, 4;
manac-falt-leih, gota-chund-leih (divinus), kipaur-scaf-leih
(domesticus) ker. 48. und ähnliche adj. Mhd. kran-wit-
staude (juniperus) Rud. weltchr.; blei-erz-berc Frib. Trist.
Nhd. heidel-beer-staude; holz-apfel-baum, kern-obst-baum,

III. decompoſita.
§. 5. Decompoſita (ſ. 410.).

Mehrfache zuſammenſetzung iſt vorhanden, wenn über
zwei wörter miteinander verbunden ſind. Der gewöhn-
liche fall iſt die compoſition von dreien; die von vieren
iſt nicht zahlreich, die von fünfen gehört zu den ſelten-
heiten.

I. drei wörter zuſammengeſetzt. Die doppelte com-
poſition geſchieht kaum zu gleicher zeit, ſondern es ſind
ſchon zwei wörter früher miteinander verbunden, denen
ſich hernach das dritte beigeſellt. Bloß von einigen be-
ſchreibenden farbenzuſammenſtellungen, z. b. die roth-
blau-weiße cocarde ließe ſich ſagen, daß ſie auf einmahl
gebildet ſeien; es iſt aber auch mehr appoſition, als com-
poſition. In der regel tritt nun entw. ein einfaches wort
zu einem compoſito (gold-bergwerk, zell-gewebe) oder
ein compoſitum zum einfachen (erdbeer-ſtrauch, gewinn-
ſucht). Mit hinſicht auf die zuſammenſetzungsweiſe ſelbſt
find entw. beide compoſitionen eigentlich (feder-meßer-
ſtiel) oder beide uneigentlich (bundes-tags-ſitzung) oder
die eine eigentlich, die andere uneigentlich (kuh-pocken-
impfung).

1) decompoſita, beidemahl eigentlich; hier liegt der
bindungsvocal zweimahl zu grunde und müſte in der äl-
teſten ſprache zweimahl erſcheinen, etwa in hova-bota-
ſcaf, hova-taga-dinc, allein dieſe beiſpiele ſind erfunden,
ich weiß keine zu belegen. Die goth. ſprache liefert
überhaupt kein ſolches decompoſitum und die ahd.
wenige.

α) ſimplex und compoſitum: ahd. poum-wërah-mei-
ſtar (abietarius) monſ. 321. eigentlich faber lignarius, vgl.
wërc-meiſtar (faber) T. 78. trev. 42b; mhd. kar-frî-tac Parc.
108c; nhd. gold-berg-werk, kirſch-lor-beer, hof-ſilber-
ſchmid, hof-mar-ſchall, hof-küchen-meiſter, ſtadt-vieh-hirt,
ſtadt-bau-meiſter, rhein-ſchif-fahrt; hierher auch die adj.
verſtärkungen wie funkel-nagel-neu, ſplitter-faſel-nackt etc.

β) compoſitum und ſimplex; dieſer gibt es weit meh-
rere: ahd. ê-wart-tuam (ſacerdotium) K. 55b; heri-ginôƷ-
ſcaf (contubernium); puoh-ſtap-zîla (chirographum) hrab.
965b; wî-rouh-faƷ monſ. 331; ſuoƷ-ſtanch-përg (liba-
nus) N. 91, 13; ſito-vang-irre (ſchiſmaticus) N. 22, 4;
manac-falt-lîh, gota-chund-lîh (divinus), kipûr-ſcaf-lîh
(domeſticus) ker. 48. und ähnliche adj. Mhd. krân-wit-
ſtûde (juniperus) Rud. weltchr.; blî-ërz-bërc Frib. Triſt.
Nhd. heidel-beer-ſtaude; holz-apfel-baum, kern-obſt-baum,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0942" n="924"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">III. <hi rendition="#i">decompo&#x017F;ita.</hi></hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 5. <hi rendition="#i">Decompo&#x017F;ita</hi> (&#x017F;. 410.).</head><lb/>
            <p>Mehrfache zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung i&#x017F;t vorhanden, wenn über<lb/>
zwei wörter miteinander verbunden &#x017F;ind. Der gewöhn-<lb/>
liche fall i&#x017F;t die compo&#x017F;ition von dreien; die von vieren<lb/>
i&#x017F;t nicht zahlreich, die von fünfen gehört zu den &#x017F;elten-<lb/>
heiten.</p><lb/>
            <p>I. <hi rendition="#i">drei wörter zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzt.</hi> Die doppelte com-<lb/>
po&#x017F;ition ge&#x017F;chieht kaum zu gleicher zeit, &#x017F;ondern es &#x017F;ind<lb/>
&#x017F;chon zwei wörter früher miteinander verbunden, denen<lb/>
&#x017F;ich hernach das dritte beige&#x017F;ellt. Bloß von einigen be-<lb/>
&#x017F;chreibenden farbenzu&#x017F;ammen&#x017F;tellungen, z. b. die roth-<lb/>
blau-weiße cocarde ließe &#x017F;ich &#x017F;agen, daß &#x017F;ie auf einmahl<lb/>
gebildet &#x017F;eien; es i&#x017F;t aber auch mehr appo&#x017F;ition, als com-<lb/>
po&#x017F;ition. In der regel tritt nun entw. ein einfaches wort<lb/>
zu einem compo&#x017F;ito (gold-bergwerk, zell-gewebe) oder<lb/>
ein compo&#x017F;itum zum einfachen (erdbeer-&#x017F;trauch, gewinn-<lb/>
&#x017F;ucht). Mit hin&#x017F;icht auf die zu&#x017F;ammen&#x017F;etzungswei&#x017F;e &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
find entw. beide compo&#x017F;itionen eigentlich (feder-meßer-<lb/>
&#x017F;tiel) oder beide uneigentlich (bundes-tags-&#x017F;itzung) oder<lb/>
die eine eigentlich, die andere uneigentlich (kuh-pocken-<lb/>
impfung).</p><lb/>
            <p>1) <hi rendition="#i">decompo&#x017F;ita, beidemahl eigentlich;</hi> hier liegt der<lb/>
bindungsvocal zweimahl zu grunde und mü&#x017F;te in der äl-<lb/>
te&#x017F;ten &#x017F;prache zweimahl er&#x017F;cheinen, etwa in hova-bota-<lb/>
&#x017F;caf, hova-taga-dinc, allein die&#x017F;e bei&#x017F;piele &#x017F;ind erfunden,<lb/>
ich weiß keine zu belegen. Die goth. &#x017F;prache liefert<lb/>
überhaupt kein &#x017F;olches decompo&#x017F;itum und die ahd.<lb/>
wenige.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#i">&#x03B1;</hi>) &#x017F;implex und compo&#x017F;itum: ahd. poum-wërah-mei-<lb/>
&#x017F;tar (abietarius) mon&#x017F;. 321. eigentlich faber lignarius, vgl.<lb/>
wërc-mei&#x017F;tar (faber) T. 78. trev. 42<hi rendition="#sup">b</hi>; mhd. kar-frî-tac Parc.<lb/>
108<hi rendition="#sup">c</hi>; nhd. gold-berg-werk, kir&#x017F;ch-lor-beer, hof-&#x017F;ilber-<lb/>
&#x017F;chmid, hof-mar-&#x017F;chall, hof-küchen-mei&#x017F;ter, &#x017F;tadt-vieh-hirt,<lb/>
&#x017F;tadt-bau-mei&#x017F;ter, rhein-&#x017F;chif-fahrt; hierher auch die adj.<lb/>
ver&#x017F;tärkungen wie funkel-nagel-neu, &#x017F;plitter-fa&#x017F;el-nackt etc.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#i">&#x03B2;</hi>) compo&#x017F;itum und &#x017F;implex; die&#x017F;er gibt es weit meh-<lb/>
rere: ahd. ê-wart-tuam (&#x017F;acerdotium) K. 55<hi rendition="#sup">b</hi>; heri-ginô&#x01B7;-<lb/>
&#x017F;caf (contubernium); puoh-&#x017F;tap-zîla (chirographum) hrab.<lb/>
965<hi rendition="#sup">b</hi>; wî-rouh-fa&#x01B7; mon&#x017F;. 331; &#x017F;uo&#x01B7;-&#x017F;tanch-përg (liba-<lb/>
nus) N. 91, 13; &#x017F;ito-vang-irre (&#x017F;chi&#x017F;maticus) N. 22, 4;<lb/>
manac-falt-lîh, gota-chund-lîh (divinus), kipûr-&#x017F;caf-lîh<lb/>
(dome&#x017F;ticus) ker. 48. und ähnliche adj. Mhd. krân-wit-<lb/>
&#x017F;tûde (juniperus) Rud. weltchr.; blî-ërz-bërc Frib. Tri&#x017F;t.<lb/>
Nhd. heidel-beer-&#x017F;taude; holz-apfel-baum, kern-ob&#x017F;t-baum,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[924/0942] III. decompoſita. §. 5. Decompoſita (ſ. 410.). Mehrfache zuſammenſetzung iſt vorhanden, wenn über zwei wörter miteinander verbunden ſind. Der gewöhn- liche fall iſt die compoſition von dreien; die von vieren iſt nicht zahlreich, die von fünfen gehört zu den ſelten- heiten. I. drei wörter zuſammengeſetzt. Die doppelte com- poſition geſchieht kaum zu gleicher zeit, ſondern es ſind ſchon zwei wörter früher miteinander verbunden, denen ſich hernach das dritte beigeſellt. Bloß von einigen be- ſchreibenden farbenzuſammenſtellungen, z. b. die roth- blau-weiße cocarde ließe ſich ſagen, daß ſie auf einmahl gebildet ſeien; es iſt aber auch mehr appoſition, als com- poſition. In der regel tritt nun entw. ein einfaches wort zu einem compoſito (gold-bergwerk, zell-gewebe) oder ein compoſitum zum einfachen (erdbeer-ſtrauch, gewinn- ſucht). Mit hinſicht auf die zuſammenſetzungsweiſe ſelbſt find entw. beide compoſitionen eigentlich (feder-meßer- ſtiel) oder beide uneigentlich (bundes-tags-ſitzung) oder die eine eigentlich, die andere uneigentlich (kuh-pocken- impfung). 1) decompoſita, beidemahl eigentlich; hier liegt der bindungsvocal zweimahl zu grunde und müſte in der äl- teſten ſprache zweimahl erſcheinen, etwa in hova-bota- ſcaf, hova-taga-dinc, allein dieſe beiſpiele ſind erfunden, ich weiß keine zu belegen. Die goth. ſprache liefert überhaupt kein ſolches decompoſitum und die ahd. wenige. α) ſimplex und compoſitum: ahd. poum-wërah-mei- ſtar (abietarius) monſ. 321. eigentlich faber lignarius, vgl. wërc-meiſtar (faber) T. 78. trev. 42b; mhd. kar-frî-tac Parc. 108c; nhd. gold-berg-werk, kirſch-lor-beer, hof-ſilber- ſchmid, hof-mar-ſchall, hof-küchen-meiſter, ſtadt-vieh-hirt, ſtadt-bau-meiſter, rhein-ſchif-fahrt; hierher auch die adj. verſtärkungen wie funkel-nagel-neu, ſplitter-faſel-nackt etc. β) compoſitum und ſimplex; dieſer gibt es weit meh- rere: ahd. ê-wart-tuam (ſacerdotium) K. 55b; heri-ginôƷ- ſcaf (contubernium); puoh-ſtap-zîla (chirographum) hrab. 965b; wî-rouh-faƷ monſ. 331; ſuoƷ-ſtanch-përg (liba- nus) N. 91, 13; ſito-vang-irre (ſchiſmaticus) N. 22, 4; manac-falt-lîh, gota-chund-lîh (divinus), kipûr-ſcaf-lîh (domeſticus) ker. 48. und ähnliche adj. Mhd. krân-wit- ſtûde (juniperus) Rud. weltchr.; blî-ërz-bërc Frib. Triſt. Nhd. heidel-beer-ſtaude; holz-apfel-baum, kern-obſt-baum,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/942
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 924. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/942>, abgerufen am 22.11.2024.