Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

auch wohl besitzen, aber auf immer seine ganze Habe so zusammengepreßt vor sich stehn zu haben, das möchte doch Keiner. Man will ein paar Wände, ein sonniges Fenster und Blumen davor, die man auskeimen sah und deren Blüthe man erwartet. Daran hing es bei Herrn von R. --, seine Seele war eines der gemüthlichsten Necessaires von allem, was man wissen und erfahren kann, blank und comfortabel; und sein Herz, das sich nie ganz ausgedehnt, nirgends in friedlicher Stille angesiedelt hatte, das sollte zum ersten Mal einem anderen völlig angehören! Ach, und das arme junge Herz, dem dieses Glück zugedacht war, fühlte nichts als einen ungewohnten zitternden Respect vor Dem, der es ihm zu Füßen legte.

Er verließ nun doch das Fenster, er setzte sich erst etwas fern von dem Kinde nieder, immer sprechend, und saß dann neben ihm. Er sprach natürlich, er gestand frei, wie traurig er mit sich allein gelebt, und welche Hoffnungen er auf sie gesetzt hätte. Sie hörte, horchte; er sprach so einfach, so bescheiden, so resignirt; ein Mitleid überkam ihre Seele, das grenzenlos war, sie sah seine Einsamkeit, sie hätte Alles thun mögen, ihn ihr zu entreißen; sie hörte zum ersten Mal, daß es in ihrer Gewalt stehe, eines Menschen ganzes Leben glücklich zu machen: wie wäre es da möglich gewesen, seine Bitte abzuschlagen? Ihre Augen füllten sich mit Thränen, bis sie ihn schluchzend bat, innezuhalten, denn er erzählte von seinem Leben, nicht um

auch wohl besitzen, aber auf immer seine ganze Habe so zusammengepreßt vor sich stehn zu haben, das möchte doch Keiner. Man will ein paar Wände, ein sonniges Fenster und Blumen davor, die man auskeimen sah und deren Blüthe man erwartet. Daran hing es bei Herrn von R. —, seine Seele war eines der gemüthlichsten Necessaires von allem, was man wissen und erfahren kann, blank und comfortabel; und sein Herz, das sich nie ganz ausgedehnt, nirgends in friedlicher Stille angesiedelt hatte, das sollte zum ersten Mal einem anderen völlig angehören! Ach, und das arme junge Herz, dem dieses Glück zugedacht war, fühlte nichts als einen ungewohnten zitternden Respect vor Dem, der es ihm zu Füßen legte.

Er verließ nun doch das Fenster, er setzte sich erst etwas fern von dem Kinde nieder, immer sprechend, und saß dann neben ihm. Er sprach natürlich, er gestand frei, wie traurig er mit sich allein gelebt, und welche Hoffnungen er auf sie gesetzt hätte. Sie hörte, horchte; er sprach so einfach, so bescheiden, so resignirt; ein Mitleid überkam ihre Seele, das grenzenlos war, sie sah seine Einsamkeit, sie hätte Alles thun mögen, ihn ihr zu entreißen; sie hörte zum ersten Mal, daß es in ihrer Gewalt stehe, eines Menschen ganzes Leben glücklich zu machen: wie wäre es da möglich gewesen, seine Bitte abzuschlagen? Ihre Augen füllten sich mit Thränen, bis sie ihn schluchzend bat, innezuhalten, denn er erzählte von seinem Leben, nicht um

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="1">
        <p><pb facs="#f0016"/>
auch wohl besitzen, aber auf immer seine ganze Habe so      zusammengepreßt vor sich stehn zu haben, das möchte doch Keiner. Man will ein paar Wände, ein      sonniges Fenster und Blumen davor, die man auskeimen sah und deren Blüthe man erwartet. Daran      hing es bei Herrn von R. &#x2014;, seine Seele war eines der gemüthlichsten Necessaires von allem, was      man wissen und erfahren kann, blank und comfortabel; und sein Herz, das sich nie ganz      ausgedehnt, nirgends in friedlicher Stille angesiedelt hatte, das sollte zum ersten Mal einem      anderen völlig angehören! Ach, und das arme junge Herz, dem dieses Glück zugedacht war, fühlte      nichts als einen ungewohnten zitternden Respect vor Dem, der es ihm zu Füßen legte.</p><lb/>
        <p>Er verließ nun doch das Fenster, er setzte sich erst etwas fern von dem Kinde nieder, immer      sprechend, und saß dann neben ihm. Er sprach natürlich, er gestand frei, wie traurig er mit      sich allein gelebt, und welche Hoffnungen er auf sie gesetzt hätte. Sie hörte, horchte; er      sprach so einfach, so bescheiden, so resignirt; ein Mitleid überkam ihre Seele, das grenzenlos      war, sie sah seine Einsamkeit, sie hätte Alles thun mögen, ihn ihr zu entreißen; sie hörte zum      ersten Mal, daß es in ihrer Gewalt stehe, eines Menschen ganzes Leben glücklich zu machen: wie      wäre es da möglich gewesen, seine Bitte abzuschlagen? Ihre Augen füllten sich mit Thränen, bis      sie ihn schluchzend bat, innezuhalten, denn er erzählte von seinem Leben, nicht um<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0016] auch wohl besitzen, aber auf immer seine ganze Habe so zusammengepreßt vor sich stehn zu haben, das möchte doch Keiner. Man will ein paar Wände, ein sonniges Fenster und Blumen davor, die man auskeimen sah und deren Blüthe man erwartet. Daran hing es bei Herrn von R. —, seine Seele war eines der gemüthlichsten Necessaires von allem, was man wissen und erfahren kann, blank und comfortabel; und sein Herz, das sich nie ganz ausgedehnt, nirgends in friedlicher Stille angesiedelt hatte, das sollte zum ersten Mal einem anderen völlig angehören! Ach, und das arme junge Herz, dem dieses Glück zugedacht war, fühlte nichts als einen ungewohnten zitternden Respect vor Dem, der es ihm zu Füßen legte. Er verließ nun doch das Fenster, er setzte sich erst etwas fern von dem Kinde nieder, immer sprechend, und saß dann neben ihm. Er sprach natürlich, er gestand frei, wie traurig er mit sich allein gelebt, und welche Hoffnungen er auf sie gesetzt hätte. Sie hörte, horchte; er sprach so einfach, so bescheiden, so resignirt; ein Mitleid überkam ihre Seele, das grenzenlos war, sie sah seine Einsamkeit, sie hätte Alles thun mögen, ihn ihr zu entreißen; sie hörte zum ersten Mal, daß es in ihrer Gewalt stehe, eines Menschen ganzes Leben glücklich zu machen: wie wäre es da möglich gewesen, seine Bitte abzuschlagen? Ihre Augen füllten sich mit Thränen, bis sie ihn schluchzend bat, innezuhalten, denn er erzählte von seinem Leben, nicht um

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:24:04Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:24:04Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/16
Zitationshilfe: Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/16>, abgerufen am 21.11.2024.