Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Morgen, und als sie Abends wieder an ihres Verlobten Seite über den lichterhellen Platz durch das Gedränge der fremden Menschen ging, fühlte sie sich geschützt neben ihm und erinnerte sich dunkel der seltsamen Gedanken der vergangenen Nacht, der Gedanken, die sie einst gehabt. Gestern nannte sie einst. Sie freute sich auf Rom und auf ihren Bruder. Albert hatte zuerst sonderbare Vermuthungen über den Vorfall, ihn dann aber so verstanden, als sehnte sich Emma nach Therese, von der sie oft sprach. Im ersten Momente berührte ihn das energische "Nichts" sehr überraschend, hernach glaubte er, daß er sich getäuscht hätte. Sie war am folgenden Tage so ganz wieder wie sonst gewesen; mochte da das Eine Wort unerklärlich bleiben, er vergaß es. In Florenz wirkte die Nähe Roms schon allzu magisch; man kürzte die Zeit ab, und als noch die schönen Tage sich ungetrübt und warm folgten, war man schon in Rom angelangt und in der angenehmsten Wohnung heimisch geworden. Albert's Genuß fing hier eigentlich erst an. Er kannte jedes Haus, jeden Stein so zu sagen. Emma's Bruder, Heinrich, der sich ihm auf das Herzlichste anschloß, zeigte ihm was neu war und der letzten Zeit angehörte. Emma ging auf in der neuen Welt, die sich ihr erschloß, sie war unermüdlich und, ohne es zu ahnen, bald der Mittelpunkt eines Kreises der liebenswürdigsten Leute, alle ohne Sorgen, nur bemüht, auch das geringste Schöne von Morgen, und als sie Abends wieder an ihres Verlobten Seite über den lichterhellen Platz durch das Gedränge der fremden Menschen ging, fühlte sie sich geschützt neben ihm und erinnerte sich dunkel der seltsamen Gedanken der vergangenen Nacht, der Gedanken, die sie einst gehabt. Gestern nannte sie einst. Sie freute sich auf Rom und auf ihren Bruder. Albert hatte zuerst sonderbare Vermuthungen über den Vorfall, ihn dann aber so verstanden, als sehnte sich Emma nach Therese, von der sie oft sprach. Im ersten Momente berührte ihn das energische „Nichts“ sehr überraschend, hernach glaubte er, daß er sich getäuscht hätte. Sie war am folgenden Tage so ganz wieder wie sonst gewesen; mochte da das Eine Wort unerklärlich bleiben, er vergaß es. In Florenz wirkte die Nähe Roms schon allzu magisch; man kürzte die Zeit ab, und als noch die schönen Tage sich ungetrübt und warm folgten, war man schon in Rom angelangt und in der angenehmsten Wohnung heimisch geworden. Albert's Genuß fing hier eigentlich erst an. Er kannte jedes Haus, jeden Stein so zu sagen. Emma's Bruder, Heinrich, der sich ihm auf das Herzlichste anschloß, zeigte ihm was neu war und der letzten Zeit angehörte. Emma ging auf in der neuen Welt, die sich ihr erschloß, sie war unermüdlich und, ohne es zu ahnen, bald der Mittelpunkt eines Kreises der liebenswürdigsten Leute, alle ohne Sorgen, nur bemüht, auch das geringste Schöne von <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0053"/> Morgen, und als sie Abends wieder an ihres Verlobten Seite über den lichterhellen Platz durch das Gedränge der fremden Menschen ging, fühlte sie sich geschützt neben ihm und erinnerte sich dunkel der seltsamen Gedanken der vergangenen Nacht, der Gedanken, die sie einst gehabt. Gestern nannte sie einst. Sie freute sich auf Rom und auf ihren Bruder.</p><lb/> <p>Albert hatte zuerst sonderbare Vermuthungen über den Vorfall, ihn dann aber so verstanden, als sehnte sich Emma nach Therese, von der sie oft sprach. Im ersten Momente berührte ihn das energische „Nichts“ sehr überraschend, hernach glaubte er, daß er sich getäuscht hätte. Sie war am folgenden Tage so ganz wieder wie sonst gewesen; mochte da das Eine Wort unerklärlich bleiben, er vergaß es.</p><lb/> <p>In Florenz wirkte die Nähe Roms schon allzu magisch; man kürzte die Zeit ab, und als noch die schönen Tage sich ungetrübt und warm folgten, war man schon in Rom angelangt und in der angenehmsten Wohnung heimisch geworden. Albert's Genuß fing hier eigentlich erst an. Er kannte jedes Haus, jeden Stein so zu sagen. Emma's Bruder, Heinrich, der sich ihm auf das Herzlichste anschloß, zeigte ihm was neu war und der letzten Zeit angehörte. Emma ging auf in der neuen Welt, die sich ihr erschloß, sie war unermüdlich und, ohne es zu ahnen, bald der Mittelpunkt eines Kreises der liebenswürdigsten Leute, alle ohne Sorgen, nur bemüht, auch das geringste Schöne von<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0053]
Morgen, und als sie Abends wieder an ihres Verlobten Seite über den lichterhellen Platz durch das Gedränge der fremden Menschen ging, fühlte sie sich geschützt neben ihm und erinnerte sich dunkel der seltsamen Gedanken der vergangenen Nacht, der Gedanken, die sie einst gehabt. Gestern nannte sie einst. Sie freute sich auf Rom und auf ihren Bruder.
Albert hatte zuerst sonderbare Vermuthungen über den Vorfall, ihn dann aber so verstanden, als sehnte sich Emma nach Therese, von der sie oft sprach. Im ersten Momente berührte ihn das energische „Nichts“ sehr überraschend, hernach glaubte er, daß er sich getäuscht hätte. Sie war am folgenden Tage so ganz wieder wie sonst gewesen; mochte da das Eine Wort unerklärlich bleiben, er vergaß es.
In Florenz wirkte die Nähe Roms schon allzu magisch; man kürzte die Zeit ab, und als noch die schönen Tage sich ungetrübt und warm folgten, war man schon in Rom angelangt und in der angenehmsten Wohnung heimisch geworden. Albert's Genuß fing hier eigentlich erst an. Er kannte jedes Haus, jeden Stein so zu sagen. Emma's Bruder, Heinrich, der sich ihm auf das Herzlichste anschloß, zeigte ihm was neu war und der letzten Zeit angehörte. Emma ging auf in der neuen Welt, die sich ihr erschloß, sie war unermüdlich und, ohne es zu ahnen, bald der Mittelpunkt eines Kreises der liebenswürdigsten Leute, alle ohne Sorgen, nur bemüht, auch das geringste Schöne von
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Zitationshilfe: | Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/53>, abgerufen am 16.07.2024. |