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Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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auf sich zukommen und still neben sich setzen. Er hatte ein geräuschloses Zimmer aufgesucht, wie das seine Art war. Emma drückte sich schweigend an ihn und legte ihre Hand in die seine; sie war eiskalt. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und sah zu Boden, aber sie sprach kein Wort.

Kind, rief er, bist du krank? -- Ja, antwortete leise das Mädchen, ich glaube, mir ist nicht ganz wohl; geh mit mir nach Hause. Aber sag den Andern nichts. Laß uns so fortgehen. -- Ich will's nur irgend jemand sagen, damit sie sich nicht ängstigen. Er verließ sie, kam sogleich wieder und ging bald mit ihr allein durch die dunkle Nacht. Ihre Wohnung war auf dem Capitol; als sie die Stufen hinanstiegen, hielt Emma in ihrer Mitte inne und setzte sich auf einen Stein. Ich bin so müde, sagte sie, als hätte ich Blei in den Knieen. Er nahm ihre Hand und fühlte den Puls. Fieber hast du nicht, Kind; ist dir sonst etwas zugestoßen? -- Ach, Heinrich, sagte sie, ich wollte, wir drei Geschwister wären noch bei uns auf dem Lande, und du wärst nicht fortgegangen, und es wäre nichts vorgefallen. Wir waren da so glücklich! Sie fing bitterlich an zu weinen.

Bist du's jetzt nicht, Kind? Ich dachte doch, du wärest es? -- Komm, sagte sie, wir wollen hinauf gehen. Sie stiegen die letzten Stufen hinan. Es dauerte nicht lange, so erschienen Albert und der Vater, ein Arzt mit ihnen. Es ward examinirt und berathen,

auf sich zukommen und still neben sich setzen. Er hatte ein geräuschloses Zimmer aufgesucht, wie das seine Art war. Emma drückte sich schweigend an ihn und legte ihre Hand in die seine; sie war eiskalt. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und sah zu Boden, aber sie sprach kein Wort.

Kind, rief er, bist du krank? — Ja, antwortete leise das Mädchen, ich glaube, mir ist nicht ganz wohl; geh mit mir nach Hause. Aber sag den Andern nichts. Laß uns so fortgehen. — Ich will's nur irgend jemand sagen, damit sie sich nicht ängstigen. Er verließ sie, kam sogleich wieder und ging bald mit ihr allein durch die dunkle Nacht. Ihre Wohnung war auf dem Capitol; als sie die Stufen hinanstiegen, hielt Emma in ihrer Mitte inne und setzte sich auf einen Stein. Ich bin so müde, sagte sie, als hätte ich Blei in den Knieen. Er nahm ihre Hand und fühlte den Puls. Fieber hast du nicht, Kind; ist dir sonst etwas zugestoßen? — Ach, Heinrich, sagte sie, ich wollte, wir drei Geschwister wären noch bei uns auf dem Lande, und du wärst nicht fortgegangen, und es wäre nichts vorgefallen. Wir waren da so glücklich! Sie fing bitterlich an zu weinen.

Bist du's jetzt nicht, Kind? Ich dachte doch, du wärest es? — Komm, sagte sie, wir wollen hinauf gehen. Sie stiegen die letzten Stufen hinan. Es dauerte nicht lange, so erschienen Albert und der Vater, ein Arzt mit ihnen. Es ward examinirt und berathen,

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[0055] auf sich zukommen und still neben sich setzen. Er hatte ein geräuschloses Zimmer aufgesucht, wie das seine Art war. Emma drückte sich schweigend an ihn und legte ihre Hand in die seine; sie war eiskalt. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und sah zu Boden, aber sie sprach kein Wort. Kind, rief er, bist du krank? — Ja, antwortete leise das Mädchen, ich glaube, mir ist nicht ganz wohl; geh mit mir nach Hause. Aber sag den Andern nichts. Laß uns so fortgehen. — Ich will's nur irgend jemand sagen, damit sie sich nicht ängstigen. Er verließ sie, kam sogleich wieder und ging bald mit ihr allein durch die dunkle Nacht. Ihre Wohnung war auf dem Capitol; als sie die Stufen hinanstiegen, hielt Emma in ihrer Mitte inne und setzte sich auf einen Stein. Ich bin so müde, sagte sie, als hätte ich Blei in den Knieen. Er nahm ihre Hand und fühlte den Puls. Fieber hast du nicht, Kind; ist dir sonst etwas zugestoßen? — Ach, Heinrich, sagte sie, ich wollte, wir drei Geschwister wären noch bei uns auf dem Lande, und du wärst nicht fortgegangen, und es wäre nichts vorgefallen. Wir waren da so glücklich! Sie fing bitterlich an zu weinen. Bist du's jetzt nicht, Kind? Ich dachte doch, du wärest es? — Komm, sagte sie, wir wollen hinauf gehen. Sie stiegen die letzten Stufen hinan. Es dauerte nicht lange, so erschienen Albert und der Vater, ein Arzt mit ihnen. Es ward examinirt und berathen,

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:24:04Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:24:04Z)

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Zitationshilfe: Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/55>, abgerufen am 19.05.2024.