Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.unter dem Kopfkissen hervor, las ihn und steckte ihn wieder dahin. Es war nicht Recht im Grunde, aber es ist am Ende doch verzeihlich, und leichtsinnige Neugier war es nicht. Albert schwieg. Nach einer Weile fragte er gleichgültig: Kennst du ihn? -- Sehr gut. Ich wollte ihn längst bei uns einführen, aber er verbat sich das und verlangte, ich möchte seiner überhaupt nicht bei uns erwähnen. Er sagte mir keinen Grund, und ich ahnte diesen nicht im mindesten. -- Was hältst du von ihm, ehrlich gesagt? -- Ehrlich gesagt, Albert, da du es verlangst, er ist der erste junge Mensch, der mir von Herzen lieb ist. So urtheilte ich am ersten Tage über ihn, als wir uns sahen. Ich spreche das aus, weil du es wissen wolltest. -- Albert fragte nicht weiter. Heinrich stand noch eine Zeit lang schweigend am Tische und sah alle die Dinge, die da lagen, noch einmal genau an, als erwartete er eine Fortsetzung des Gesprächs. Dann wandte er sich zur Thüre, sagte hinausgehend einfach gute Nacht, und Albert blieb allein. Um Mitternacht saß er noch da, wie Heinrich ihn verlassen hatte. Die Lampe ward immer kleiner und verlöschte endlich. Als er einmal aus tiefen Gedanken aufblickend bemerkte, daß es dunkel sei, zündete er ein Licht an, sah auf die Uhr und verließ sein Zimmer. Er ging hinunter, schlich durch die finstern Stuben bis zu Emma's Thür und hörte sie athmen. Dann unter dem Kopfkissen hervor, las ihn und steckte ihn wieder dahin. Es war nicht Recht im Grunde, aber es ist am Ende doch verzeihlich, und leichtsinnige Neugier war es nicht. Albert schwieg. Nach einer Weile fragte er gleichgültig: Kennst du ihn? — Sehr gut. Ich wollte ihn längst bei uns einführen, aber er verbat sich das und verlangte, ich möchte seiner überhaupt nicht bei uns erwähnen. Er sagte mir keinen Grund, und ich ahnte diesen nicht im mindesten. — Was hältst du von ihm, ehrlich gesagt? — Ehrlich gesagt, Albert, da du es verlangst, er ist der erste junge Mensch, der mir von Herzen lieb ist. So urtheilte ich am ersten Tage über ihn, als wir uns sahen. Ich spreche das aus, weil du es wissen wolltest. — Albert fragte nicht weiter. Heinrich stand noch eine Zeit lang schweigend am Tische und sah alle die Dinge, die da lagen, noch einmal genau an, als erwartete er eine Fortsetzung des Gesprächs. Dann wandte er sich zur Thüre, sagte hinausgehend einfach gute Nacht, und Albert blieb allein. Um Mitternacht saß er noch da, wie Heinrich ihn verlassen hatte. Die Lampe ward immer kleiner und verlöschte endlich. Als er einmal aus tiefen Gedanken aufblickend bemerkte, daß es dunkel sei, zündete er ein Licht an, sah auf die Uhr und verließ sein Zimmer. Er ging hinunter, schlich durch die finstern Stuben bis zu Emma's Thür und hörte sie athmen. Dann <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0069"/> unter dem Kopfkissen hervor, las ihn und steckte ihn wieder dahin. Es war nicht Recht im Grunde, aber es ist am Ende doch verzeihlich, und leichtsinnige Neugier war es nicht.</p><lb/> <p>Albert schwieg. Nach einer Weile fragte er gleichgültig: Kennst du ihn? — Sehr gut. Ich wollte ihn längst bei uns einführen, aber er verbat sich das und verlangte, ich möchte seiner überhaupt nicht bei uns erwähnen. Er sagte mir keinen Grund, und ich ahnte diesen nicht im mindesten. — Was hältst du von ihm, ehrlich gesagt? — Ehrlich gesagt, Albert, da du es verlangst, er ist der erste junge Mensch, der mir von Herzen lieb ist. So urtheilte ich am ersten Tage über ihn, als wir uns sahen. Ich spreche das aus, weil du es wissen wolltest. — Albert fragte nicht weiter. Heinrich stand noch eine Zeit lang schweigend am Tische und sah alle die Dinge, die da lagen, noch einmal genau an, als erwartete er eine Fortsetzung des Gesprächs. Dann wandte er sich zur Thüre, sagte hinausgehend einfach gute Nacht, und Albert blieb allein.</p><lb/> <p>Um Mitternacht saß er noch da, wie Heinrich ihn verlassen hatte. Die Lampe ward immer kleiner und verlöschte endlich. Als er einmal aus tiefen Gedanken aufblickend bemerkte, daß es dunkel sei, zündete er ein Licht an, sah auf die Uhr und verließ sein Zimmer. Er ging hinunter, schlich durch die finstern Stuben bis zu Emma's Thür und hörte sie athmen. Dann<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0069]
unter dem Kopfkissen hervor, las ihn und steckte ihn wieder dahin. Es war nicht Recht im Grunde, aber es ist am Ende doch verzeihlich, und leichtsinnige Neugier war es nicht.
Albert schwieg. Nach einer Weile fragte er gleichgültig: Kennst du ihn? — Sehr gut. Ich wollte ihn längst bei uns einführen, aber er verbat sich das und verlangte, ich möchte seiner überhaupt nicht bei uns erwähnen. Er sagte mir keinen Grund, und ich ahnte diesen nicht im mindesten. — Was hältst du von ihm, ehrlich gesagt? — Ehrlich gesagt, Albert, da du es verlangst, er ist der erste junge Mensch, der mir von Herzen lieb ist. So urtheilte ich am ersten Tage über ihn, als wir uns sahen. Ich spreche das aus, weil du es wissen wolltest. — Albert fragte nicht weiter. Heinrich stand noch eine Zeit lang schweigend am Tische und sah alle die Dinge, die da lagen, noch einmal genau an, als erwartete er eine Fortsetzung des Gesprächs. Dann wandte er sich zur Thüre, sagte hinausgehend einfach gute Nacht, und Albert blieb allein.
Um Mitternacht saß er noch da, wie Heinrich ihn verlassen hatte. Die Lampe ward immer kleiner und verlöschte endlich. Als er einmal aus tiefen Gedanken aufblickend bemerkte, daß es dunkel sei, zündete er ein Licht an, sah auf die Uhr und verließ sein Zimmer. Er ging hinunter, schlich durch die finstern Stuben bis zu Emma's Thür und hörte sie athmen. Dann
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Zitationshilfe: | Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/69>, abgerufen am 17.07.2024. |