Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Auf einem im nördlichen Deutschland gelegenen Gute lebte Herr von --, ein angesehener Landwirth, mit seinen beiden Töchtern, von denen die ältere, etwa zwanzig Jahre zählend, so ziemlich für sein Ebenbild galt; denn sie glich ihm in den Gesichtszügen, war mehr ruhig, praktisch und verständig, während ihre jüngere Schwester, lebhaft, neckisch, unruhig und ein wenig extrem in ihren kleinen Neigungen, die Welt so recht aufforderte, den zwischen den beiden Mädchen bestehenden Unterschied zu bemerken und zu beurtheilen. So galt denn die gute Therese für kühl, zurückgezogen und haushälterisch, Emma dagegen ward mit den Attributen kindisch, ausgelassen und unpraktisch belegt, und dennoch, lernte man die Schwestern genauer kennen, so war der Abstand nicht eben so groß, nur daß die eine mehr dem Vater ähnlich war, aus der andern aber die früh verstorbene Mutter herausleuchtete. Ja, wären sie beide in ihrer aufblühenden Schönheit nicht stets zusammen gewesen, so hätte man vielleicht weder an der einen noch an der andern etwas besonders Auffälliges gefunden und sich damit begnügt, zu sagen: welch ein angenehmes, liebenswürdiges Mädchen! ob sie wohl Vermögen hat? ob sie viel Geschwister hat? Auf einem im nördlichen Deutschland gelegenen Gute lebte Herr von —, ein angesehener Landwirth, mit seinen beiden Töchtern, von denen die ältere, etwa zwanzig Jahre zählend, so ziemlich für sein Ebenbild galt; denn sie glich ihm in den Gesichtszügen, war mehr ruhig, praktisch und verständig, während ihre jüngere Schwester, lebhaft, neckisch, unruhig und ein wenig extrem in ihren kleinen Neigungen, die Welt so recht aufforderte, den zwischen den beiden Mädchen bestehenden Unterschied zu bemerken und zu beurtheilen. So galt denn die gute Therese für kühl, zurückgezogen und haushälterisch, Emma dagegen ward mit den Attributen kindisch, ausgelassen und unpraktisch belegt, und dennoch, lernte man die Schwestern genauer kennen, so war der Abstand nicht eben so groß, nur daß die eine mehr dem Vater ähnlich war, aus der andern aber die früh verstorbene Mutter herausleuchtete. Ja, wären sie beide in ihrer aufblühenden Schönheit nicht stets zusammen gewesen, so hätte man vielleicht weder an der einen noch an der andern etwas besonders Auffälliges gefunden und sich damit begnügt, zu sagen: welch ein angenehmes, liebenswürdiges Mädchen! ob sie wohl Vermögen hat? ob sie viel Geschwister hat? <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <pb facs="#f0007"/> </div> </front> <body> <div type="chapter" n="1"> <p>Auf einem im nördlichen Deutschland gelegenen Gute lebte Herr von —, ein angesehener Landwirth, mit seinen beiden Töchtern, von denen die ältere, etwa zwanzig Jahre zählend, so ziemlich für sein Ebenbild galt; denn sie glich ihm in den Gesichtszügen, war mehr ruhig, praktisch und verständig, während ihre jüngere Schwester, lebhaft, neckisch, unruhig und ein wenig extrem in ihren kleinen Neigungen, die Welt so recht aufforderte, den zwischen den beiden Mädchen bestehenden Unterschied zu bemerken und zu beurtheilen. So galt denn die gute Therese für kühl, zurückgezogen und haushälterisch, Emma dagegen ward mit den Attributen kindisch, ausgelassen und unpraktisch belegt, und dennoch, lernte man die Schwestern genauer kennen, so war der Abstand nicht eben so groß, nur daß die eine mehr dem Vater ähnlich war, aus der andern aber die früh verstorbene Mutter herausleuchtete. Ja, wären sie beide in ihrer aufblühenden Schönheit nicht stets zusammen gewesen, so hätte man vielleicht weder an der einen noch an der andern etwas besonders Auffälliges gefunden und sich damit begnügt, zu sagen: welch ein angenehmes, liebenswürdiges Mädchen! ob sie wohl Vermögen hat? ob sie viel Geschwister hat?<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0007]
Auf einem im nördlichen Deutschland gelegenen Gute lebte Herr von —, ein angesehener Landwirth, mit seinen beiden Töchtern, von denen die ältere, etwa zwanzig Jahre zählend, so ziemlich für sein Ebenbild galt; denn sie glich ihm in den Gesichtszügen, war mehr ruhig, praktisch und verständig, während ihre jüngere Schwester, lebhaft, neckisch, unruhig und ein wenig extrem in ihren kleinen Neigungen, die Welt so recht aufforderte, den zwischen den beiden Mädchen bestehenden Unterschied zu bemerken und zu beurtheilen. So galt denn die gute Therese für kühl, zurückgezogen und haushälterisch, Emma dagegen ward mit den Attributen kindisch, ausgelassen und unpraktisch belegt, und dennoch, lernte man die Schwestern genauer kennen, so war der Abstand nicht eben so groß, nur daß die eine mehr dem Vater ähnlich war, aus der andern aber die früh verstorbene Mutter herausleuchtete. Ja, wären sie beide in ihrer aufblühenden Schönheit nicht stets zusammen gewesen, so hätte man vielleicht weder an der einen noch an der andern etwas besonders Auffälliges gefunden und sich damit begnügt, zu sagen: welch ein angenehmes, liebenswürdiges Mädchen! ob sie wohl Vermögen hat? ob sie viel Geschwister hat?
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Zitationshilfe: | Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/7>, abgerufen am 16.07.2024. |