ten Ablaß geholt, darbei eben der Schneider war, und als der Schneider solches ersahe, zu- nächst in die Capelle lief, oben zum Fenster wie- der hinaussprang, dem die Sau alsbald nach- folgte und in dem Capellein stand; der Schnei- der aber lief gleich zu der Thüre, schlug die zu und versperrte das Gewild im Kirchlein. Dem- nächst er hinging und seinen Gesellen solches an- zeigt, die mit einander heim ritten und es dem König anzeigten. Ob der König solcher Mähr froh oder traurig gewesen, mag ein jeglichs ge- ring verständig leichtlich abnehmen, dann er sein Tochter dem Schneider hat geben müssen; zwei- felt mir aber gar nicht, hätt' er gewußt, daß er ein Schneider wäre, er hätt' ihm eh' einen Strick gegeben, als seine Tochter. Nun der König mußt seine Tochter einem Unbekannten geben, nicht mit kleiner Bekümmerniß; darnach aber der gut Schneider wenig fragt, er allein ge- dacht, wie er des Königs Tochtermann werden möge. Also war die Hochzeit mit kleinen Freu- den vollbracht und aus einem Schneider ein Kö- nig gemacht. Nun als er etliche Nächt bei sei- ner Braut gelegen, hat er im Schlaf geredet und gesagt: "Knecht, mach mir das Wamms, flick mir die Hosen, oder ich will dir das Ehl- maß über die Ohren schlagen." Welches die gut Jungfrau wahr genommen hat, solches ihrem Herrn Vater, dem König, anzeigte, ihn darbei
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ten Ablaß geholt, darbei eben der Schneider war, und als der Schneider ſolches erſahe, zu- naͤchſt in die Capelle lief, oben zum Fenſter wie- der hinausſprang, dem die Sau alsbald nach- folgte und in dem Capellein ſtand; der Schnei- der aber lief gleich zu der Thuͤre, ſchlug die zu und verſperrte das Gewild im Kirchlein. Dem- naͤchſt er hinging und ſeinen Geſellen ſolches an- zeigt, die mit einander heim ritten und es dem Koͤnig anzeigten. Ob der Koͤnig ſolcher Maͤhr froh oder traurig geweſen, mag ein jeglichs ge- ring verſtaͤndig leichtlich abnehmen, dann er ſein Tochter dem Schneider hat geben muͤſſen; zwei- felt mir aber gar nicht, haͤtt' er gewußt, daß er ein Schneider waͤre, er haͤtt' ihm eh' einen Strick gegeben, als ſeine Tochter. Nun der Koͤnig mußt ſeine Tochter einem Unbekannten geben, nicht mit kleiner Bekuͤmmerniß; darnach aber der gut Schneider wenig fragt, er allein ge- dacht, wie er des Koͤnigs Tochtermann werden moͤge. Alſo war die Hochzeit mit kleinen Freu- den vollbracht und aus einem Schneider ein Koͤ- nig gemacht. Nun als er etliche Naͤcht bei ſei- ner Braut gelegen, hat er im Schlaf geredet und geſagt: „Knecht, mach mir das Wamms, flick mir die Hoſen, oder ich will dir das Ehl- maß uͤber die Ohren ſchlagen.“ Welches die gut Jungfrau wahr genommen hat, ſolches ihrem Herrn Vater, dem Koͤnig, anzeigte, ihn darbei
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ten Ablaß geholt, darbei eben der Schneider
war, und als der Schneider ſolches erſahe, zu-
naͤchſt in die Capelle lief, oben zum Fenſter wie-
der hinausſprang, dem die Sau alsbald nach-
folgte und in dem Capellein ſtand; der Schnei-
der aber lief gleich zu der Thuͤre, ſchlug die zu
und verſperrte das Gewild im Kirchlein. Dem-
naͤchſt er hinging und ſeinen Geſellen ſolches an-
zeigt, die mit einander heim ritten und es dem
Koͤnig anzeigten. Ob der Koͤnig ſolcher Maͤhr
froh oder traurig geweſen, mag ein jeglichs ge-
ring verſtaͤndig leichtlich abnehmen, dann er ſein
Tochter dem Schneider hat geben muͤſſen; zwei-
felt mir aber gar nicht, haͤtt' er gewußt, daß er
ein Schneider waͤre, er haͤtt' ihm eh' einen Strick
gegeben, als ſeine Tochter. Nun der Koͤnig
mußt ſeine Tochter einem Unbekannten geben,
nicht mit kleiner Bekuͤmmerniß; darnach aber
der gut Schneider wenig fragt, er allein ge-
dacht, wie er des Koͤnigs Tochtermann werden
moͤge. Alſo war die Hochzeit mit kleinen Freu-
den vollbracht und aus einem Schneider ein Koͤ-
nig gemacht. Nun als er etliche Naͤcht bei ſei-
ner Braut gelegen, hat er im Schlaf geredet
und geſagt: „Knecht, mach mir das Wamms,
flick mir die Hoſen, oder ich will dir das Ehl-
maß uͤber die Ohren ſchlagen.“ Welches die gut
Jungfrau wahr genommen hat, ſolches ihrem
Herrn Vater, dem Koͤnig, anzeigte, ihn darbei
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/117>, abgerufen am 21.11.2024.
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