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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Licht, darauf eilte es zu, und fand ein Haus
und klopfte an. Ein altes Mütterchen kam
heraus, das verwunderte sich, wie es sah, daß
ein Mädchen vor der Thüre war: "ei mein
Kind, wo kommst du so spät her?" -- "Gebt
mir doch heut Nacht eine Herberg, sprach es,
ich habe mich in dem Wald verirrt; auch ein
wenig Brod zu essen." -- "Das ist ein schwe-
res Ding, sagte die Alte ich gäbe dirs gern,
aber mein Mann ist ein Menschenfresser, wenn
der dich findet, so frißt er dich auf, da ist keine
Gnade; doch, wenn du draußen bleibst, fressen
dich die wilden Thiere, ich will sehen, ob ich
dir durchhelfen kann." Da ließ sie es herein,
und gab ihm ein wenig Brod zu essen, und
versteckte es dann unter das Bett. Der Men-
schenfresser aber kam allemal vor Mitternacht,
wenn die Sonne ganz untergegangen ist, nach
Haus, und ging Morgens, ehe sie aufsteigt,
wieder fort. Es dauerte nicht lang, so kam er
herein: "ich wittre, ich wittre Menschenfleisch!"
sprach er und suchte in der Stube, endlich griff
er auch unter das Bett und zog das Mädchen
hervor: "das ist noch ein guter Bissen!" Die
Frau aber bat und bat, bis er versprach, die
Nacht über es noch leben zu lassen, und mor-
gen erst zum Frühstück zu essen. Vor Sonnen-
aufgang aber weckte die Alte das Mädchen:
"eil dich, daß du fortkommst, eh mein Mann

Licht, darauf eilte es zu, und fand ein Haus
und klopfte an. Ein altes Muͤtterchen kam
heraus, das verwunderte ſich, wie es ſah, daß
ein Maͤdchen vor der Thuͤre war: „ei mein
Kind, wo kommſt du ſo ſpaͤt her?“ — „Gebt
mir doch heut Nacht eine Herberg, ſprach es,
ich habe mich in dem Wald verirrt; auch ein
wenig Brod zu eſſen.“ — „Das iſt ein ſchwe-
res Ding, ſagte die Alte ich gaͤbe dirs gern,
aber mein Mann iſt ein Menſchenfreſſer, wenn
der dich findet, ſo frißt er dich auf, da iſt keine
Gnade; doch, wenn du draußen bleibſt, freſſen
dich die wilden Thiere, ich will ſehen, ob ich
dir durchhelfen kann.“ Da ließ ſie es herein,
und gab ihm ein wenig Brod zu eſſen, und
verſteckte es dann unter das Bett. Der Men-
ſchenfreſſer aber kam allemal vor Mitternacht,
wenn die Sonne ganz untergegangen iſt, nach
Haus, und ging Morgens, ehe ſie aufſteigt,
wieder fort. Es dauerte nicht lang, ſo kam er
herein: „ich wittre, ich wittre Menſchenfleiſch!“
ſprach er und ſuchte in der Stube, endlich griff
er auch unter das Bett und zog das Maͤdchen
hervor: „das iſt noch ein guter Biſſen!“ Die
Frau aber bat und bat, bis er verſprach, die
Nacht uͤber es noch leben zu laſſen, und mor-
gen erſt zum Fruͤhſtuͤck zu eſſen. Vor Sonnen-
aufgang aber weckte die Alte das Maͤdchen:
„eil dich, daß du fortkommſt, eh mein Mann

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[274/0308] Licht, darauf eilte es zu, und fand ein Haus und klopfte an. Ein altes Muͤtterchen kam heraus, das verwunderte ſich, wie es ſah, daß ein Maͤdchen vor der Thuͤre war: „ei mein Kind, wo kommſt du ſo ſpaͤt her?“ — „Gebt mir doch heut Nacht eine Herberg, ſprach es, ich habe mich in dem Wald verirrt; auch ein wenig Brod zu eſſen.“ — „Das iſt ein ſchwe- res Ding, ſagte die Alte ich gaͤbe dirs gern, aber mein Mann iſt ein Menſchenfreſſer, wenn der dich findet, ſo frißt er dich auf, da iſt keine Gnade; doch, wenn du draußen bleibſt, freſſen dich die wilden Thiere, ich will ſehen, ob ich dir durchhelfen kann.“ Da ließ ſie es herein, und gab ihm ein wenig Brod zu eſſen, und verſteckte es dann unter das Bett. Der Men- ſchenfreſſer aber kam allemal vor Mitternacht, wenn die Sonne ganz untergegangen iſt, nach Haus, und ging Morgens, ehe ſie aufſteigt, wieder fort. Es dauerte nicht lang, ſo kam er herein: „ich wittre, ich wittre Menſchenfleiſch!“ ſprach er und ſuchte in der Stube, endlich griff er auch unter das Bett und zog das Maͤdchen hervor: „das iſt noch ein guter Biſſen!“ Die Frau aber bat und bat, bis er verſprach, die Nacht uͤber es noch leben zu laſſen, und mor- gen erſt zum Fruͤhſtuͤck zu eſſen. Vor Sonnen- aufgang aber weckte die Alte das Maͤdchen: „eil dich, daß du fortkommſt, eh mein Mann

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/308>, abgerufen am 23.11.2024.