am Fenster, und sahe die Leute in die Kirche gehen, da war ein Mädchen darunter von sol- cher Schönheit, daß er in einem Augenblick sei- nen Vorsatz aufgab, das Mädchen zu sich rief, und es zu seiner Gemahlin wählte. Nach Ver- lauf eines Jahrs gebar sie einen Prinzen, da wußte der König nicht, wen er zu Gevatter bitten sollte, endlich sagte er: "der erste, der mir begegnet, wer es ist, den bitte ich zu Ge- vatter;" ging aus, und der erste, der ihm begeg- nete, das war ein armer alter Mann, den bat er auch darauf zu Gevatter. Der arme Mann sagte zu, bat sich aber aus, daß er das Kind allein in die Kirche trage, daß diese verschlossen werde und niemand zusehen dürfe; das ward ihm alles bewilligt. Der König aber hatte ei- nen bösen, neugierigen Gärtner, wie nun der alte Mann das Kind in die Kirche trug, schlich er sich nach und versteckte sich in den Bänken. Da sah er, wie der Alte das Kind vor den Altar trug, es segnete, und wie einer, der ge- heime Kräfte versteht, ihm die Gabe verlieh, daß alles, was es sich wünsche, eintreffen solle. Der böse Gärtner dachte gleich, welch' einen Vortheil er sich daraus verschaffen könnte, wenn er das Kind hätte. Wie nun einmal die Köni- gin in dem Garten spazieren ging, und es auf dem Arme trug, riß er es weg, bestrich ihr den Mund mit Blut eines geschlachteten Huhns,
am Fenſter, und ſahe die Leute in die Kirche gehen, da war ein Maͤdchen darunter von ſol- cher Schoͤnheit, daß er in einem Augenblick ſei- nen Vorſatz aufgab, das Maͤdchen zu ſich rief, und es zu ſeiner Gemahlin waͤhlte. Nach Ver- lauf eines Jahrs gebar ſie einen Prinzen, da wußte der Koͤnig nicht, wen er zu Gevatter bitten ſollte, endlich ſagte er: „der erſte, der mir begegnet, wer es iſt, den bitte ich zu Ge- vatter;“ ging aus, und der erſte, der ihm begeg- nete, das war ein armer alter Mann, den bat er auch darauf zu Gevatter. Der arme Mann ſagte zu, bat ſich aber aus, daß er das Kind allein in die Kirche trage, daß dieſe verſchloſſen werde und niemand zuſehen duͤrfe; das ward ihm alles bewilligt. Der Koͤnig aber hatte ei- nen boͤſen, neugierigen Gaͤrtner, wie nun der alte Mann das Kind in die Kirche trug, ſchlich er ſich nach und verſteckte ſich in den Baͤnken. Da ſah er, wie der Alte das Kind vor den Altar trug, es ſegnete, und wie einer, der ge- heime Kraͤfte verſteht, ihm die Gabe verlieh, daß alles, was es ſich wuͤnſche, eintreffen ſolle. Der boͤſe Gaͤrtner dachte gleich, welch' einen Vortheil er ſich daraus verſchaffen koͤnnte, wenn er das Kind haͤtte. Wie nun einmal die Koͤni- gin in dem Garten ſpazieren ging, und es auf dem Arme trug, riß er es weg, beſtrich ihr den Mund mit Blut eines geſchlachteten Huhns,
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am Fenſter, und ſahe die Leute in die Kirche
gehen, da war ein Maͤdchen darunter von ſol-
cher Schoͤnheit, daß er in einem Augenblick ſei-
nen Vorſatz aufgab, das Maͤdchen zu ſich rief,
und es zu ſeiner Gemahlin waͤhlte. Nach Ver-
lauf eines Jahrs gebar ſie einen Prinzen, da
wußte der Koͤnig nicht, wen er zu Gevatter
bitten ſollte, endlich ſagte er: „der erſte, der
mir begegnet, wer es iſt, den bitte ich zu Ge-
vatter;“ ging aus, und der erſte, der ihm begeg-
nete, das war ein armer alter Mann, den bat
er auch darauf zu Gevatter. Der arme Mann
ſagte zu, bat ſich aber aus, daß er das Kind
allein in die Kirche trage, daß dieſe verſchloſſen
werde und niemand zuſehen duͤrfe; das ward
ihm alles bewilligt. Der Koͤnig aber hatte ei-
nen boͤſen, neugierigen Gaͤrtner, wie nun der
alte Mann das Kind in die Kirche trug, ſchlich
er ſich nach und verſteckte ſich in den Baͤnken.
Da ſah er, wie der Alte das Kind vor den
Altar trug, es ſegnete, und wie einer, der ge-
heime Kraͤfte verſteht, ihm die Gabe verlieh,
daß alles, was es ſich wuͤnſche, eintreffen ſolle.
Der boͤſe Gaͤrtner dachte gleich, welch' einen
Vortheil er ſich daraus verſchaffen koͤnnte, wenn
er das Kind haͤtte. Wie nun einmal die Koͤni-
gin in dem Garten ſpazieren ging, und es auf
dem Arme trug, riß er es weg, beſtrich ihr den
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/385>, abgerufen am 24.11.2024.
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