Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

in den Wald und weil die Sonne so heiß und der
Weg so weit war, so fing den Bruder an zu dur-
sten. Sie suchten Wasser und kamen zu einer
Quelle, daran stand geschrieben: "wer aus mir
trinkt, ist es ein Mann, wird er ein Tiger, ist es
ein Weib, wird es ein Lamm." Da sprach das
Mädchen: "ach! lieber Bruder, trink nicht aus
der Quelle, sonst wirst du ein Tiger und zerreißest
mich." Da sagte der Bruder, er wolle noch war-
ten, ob ihn gleich der Durst so quäle bis zur näch-
sten Quelle. Wie sie aber an die nächste Quelle
kamen, stand daran: "wer aus mir trinkt, wird
ein Wolf." Da sprach das Mädchen wieder, "lie-
ber, ach lieber Bruder trink nicht, sonst frißt du
mich." Der Bruder sprach: "noch einmal will
ich meinen Durst bezähmen, aber länger kann ich
nicht mehr;" und sie kamen zu einer dritten Quel-
le, daran war geschrieben: "wer aus mir trinkt
und ist es ein Mann, wird er ein goldener Hirsch,
ist es ein Mädchen, wird es groß und schön." --
Da legt sich der Bruder nieder und trinkt und
steht als ein goldener Hirsch auf, das Mädchen
trinkt auch und wird noch schöner und groß, als
wär es erwachsen. Dann legt es den Hirsch an
ein Seil und führt ihn fort, der König sieht den
wunderbaren Hirsch und läßt ihn einfangen. Das
Mädchen bleibt bei ihm und wird einmal behorcht,
als sie mit ihm spricht, da hört der König, daß
es die Schwester von dem Goldhirsch ist, und ver-
mählt sich mit ihr. Die Mutter des Königs aber
ist neidisch und will sie verderben, sie giebt ihr
eine häßliche Gestalt und macht, daß sie soll ge-
tödtet, der Hirsch aber vom Metzger geschlachtet
werden. -- -- Die Unschuld aber kommt an den
Tag, die Schwiegermutter wird in eine mit schar-
fen Messern angefüllte Tonne gethan und einen
Berg herabgerollt.

Zu Rapunzel. No. 12.

im Pentamerone II, 1. (Petrosinella), wo vieles
anders und besonders die zweite Hälfte lebendiger
ist, als im deutschen Märchen. Dieses hat schon

in den Wald und weil die Sonne ſo heiß und der
Weg ſo weit war, ſo fing den Bruder an zu dur-
ſten. Sie ſuchten Waſſer und kamen zu einer
Quelle, daran ſtand geſchrieben: „wer aus mir
trinkt, iſt es ein Mann, wird er ein Tiger, iſt es
ein Weib, wird es ein Lamm.“ Da ſprach das
Maͤdchen: „ach! lieber Bruder, trink nicht aus
der Quelle, ſonſt wirſt du ein Tiger und zerreißeſt
mich.“ Da ſagte der Bruder, er wolle noch war-
ten, ob ihn gleich der Durſt ſo quaͤle bis zur naͤch-
ſten Quelle. Wie ſie aber an die naͤchſte Quelle
kamen, ſtand daran: „wer aus mir trinkt, wird
ein Wolf.“ Da ſprach das Maͤdchen wieder, „lie-
ber, ach lieber Bruder trink nicht, ſonſt frißt du
mich.“ Der Bruder ſprach: „noch einmal will
ich meinen Durſt bezaͤhmen, aber laͤnger kann ich
nicht mehr;“ und ſie kamen zu einer dritten Quel-
le, daran war geſchrieben: „wer aus mir trinkt
und iſt es ein Mann, wird er ein goldener Hirſch,
iſt es ein Maͤdchen, wird es groß und ſchoͤn.“ —
Da legt ſich der Bruder nieder und trinkt und
ſteht als ein goldener Hirſch auf, das Maͤdchen
trinkt auch und wird noch ſchoͤner und groß, als
waͤr es erwachſen. Dann legt es den Hirſch an
ein Seil und fuͤhrt ihn fort, der Koͤnig ſieht den
wunderbaren Hirſch und laͤßt ihn einfangen. Das
Maͤdchen bleibt bei ihm und wird einmal behorcht,
als ſie mit ihm ſpricht, da hoͤrt der Koͤnig, daß
es die Schweſter von dem Goldhirſch iſt, und ver-
maͤhlt ſich mit ihr. Die Mutter des Koͤnigs aber
iſt neidiſch und will ſie verderben, ſie giebt ihr
eine haͤßliche Geſtalt und macht, daß ſie ſoll ge-
toͤdtet, der Hirſch aber vom Metzger geſchlachtet
werden. — — Die Unſchuld aber kommt an den
Tag, die Schwiegermutter wird in eine mit ſchar-
fen Meſſern angefuͤllte Tonne gethan und einen
Berg herabgerollt.

Zu Rapunzel. No. 12.

im Pentamerone II, 1. (Petrosinella), wo vieles
anders und beſonders die zweite Haͤlfte lebendiger
iſt, als im deutſchen Maͤrchen. Dieſes hat ſchon

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0430" n="VIII"/>
in den Wald und weil die Sonne &#x017F;o heiß und der<lb/>
Weg &#x017F;o weit war, &#x017F;o fing den Bruder an zu dur-<lb/>
&#x017F;ten. Sie &#x017F;uchten Wa&#x017F;&#x017F;er und kamen zu einer<lb/>
Quelle, daran &#x017F;tand ge&#x017F;chrieben: &#x201E;wer aus mir<lb/>
trinkt, i&#x017F;t es ein Mann, wird er ein Tiger, i&#x017F;t es<lb/>
ein Weib, wird es ein Lamm.&#x201C; Da &#x017F;prach das<lb/>
Ma&#x0364;dchen: &#x201E;ach! lieber Bruder, trink nicht aus<lb/>
der Quelle, &#x017F;on&#x017F;t wir&#x017F;t du ein Tiger und zerreiße&#x017F;t<lb/>
mich.&#x201C; Da &#x017F;agte der Bruder, er wolle noch war-<lb/>
ten, ob ihn gleich der Dur&#x017F;t &#x017F;o qua&#x0364;le bis zur na&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;ten Quelle. Wie &#x017F;ie aber an die na&#x0364;ch&#x017F;te Quelle<lb/>
kamen, &#x017F;tand daran: &#x201E;wer aus mir trinkt, wird<lb/>
ein Wolf.&#x201C; Da &#x017F;prach das Ma&#x0364;dchen wieder, &#x201E;lie-<lb/>
ber, ach lieber Bruder trink nicht, &#x017F;on&#x017F;t frißt du<lb/>
mich.&#x201C; Der Bruder &#x017F;prach: &#x201E;noch einmal will<lb/>
ich meinen Dur&#x017F;t beza&#x0364;hmen, aber la&#x0364;nger kann ich<lb/>
nicht mehr;&#x201C; und &#x017F;ie kamen zu einer dritten Quel-<lb/>
le, daran war ge&#x017F;chrieben: &#x201E;wer aus mir trinkt<lb/>
und i&#x017F;t es ein Mann, wird er ein goldener Hir&#x017F;ch,<lb/>
i&#x017F;t es ein Ma&#x0364;dchen, wird es groß und &#x017F;cho&#x0364;n.&#x201C; &#x2014;<lb/>
Da legt &#x017F;ich der Bruder nieder und trinkt und<lb/>
&#x017F;teht als ein goldener Hir&#x017F;ch auf, das Ma&#x0364;dchen<lb/>
trinkt auch und wird noch &#x017F;cho&#x0364;ner und groß, als<lb/>
wa&#x0364;r es erwach&#x017F;en. Dann legt es den Hir&#x017F;ch an<lb/>
ein Seil und fu&#x0364;hrt ihn fort, der Ko&#x0364;nig &#x017F;ieht den<lb/>
wunderbaren Hir&#x017F;ch und la&#x0364;ßt ihn einfangen. Das<lb/>
Ma&#x0364;dchen bleibt bei ihm und wird einmal behorcht,<lb/>
als &#x017F;ie mit ihm &#x017F;pricht, da ho&#x0364;rt der Ko&#x0364;nig, daß<lb/>
es die Schwe&#x017F;ter von dem Goldhir&#x017F;ch i&#x017F;t, und ver-<lb/>
ma&#x0364;hlt &#x017F;ich mit ihr. Die Mutter des Ko&#x0364;nigs aber<lb/>
i&#x017F;t neidi&#x017F;ch und will &#x017F;ie verderben, &#x017F;ie giebt ihr<lb/>
eine ha&#x0364;ßliche Ge&#x017F;talt und macht, daß &#x017F;ie &#x017F;oll ge-<lb/>
to&#x0364;dtet, der Hir&#x017F;ch aber vom Metzger ge&#x017F;chlachtet<lb/>
werden. &#x2014; &#x2014; Die Un&#x017F;chuld aber kommt an den<lb/>
Tag, die Schwiegermutter wird in eine mit &#x017F;char-<lb/>
fen Me&#x017F;&#x017F;ern angefu&#x0364;llte Tonne gethan und einen<lb/>
Berg herabgerollt.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>Zu Rapunzel. No. 12.</head><lb/>
          <p>im Pentamerone <hi rendition="#aq">II, 1. (Petrosinella)</hi>, wo vieles<lb/>
anders und be&#x017F;onders die zweite Ha&#x0364;lfte lebendiger<lb/>
i&#x017F;t, als im deut&#x017F;chen Ma&#x0364;rchen. Die&#x017F;es hat &#x017F;chon<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[VIII/0430] in den Wald und weil die Sonne ſo heiß und der Weg ſo weit war, ſo fing den Bruder an zu dur- ſten. Sie ſuchten Waſſer und kamen zu einer Quelle, daran ſtand geſchrieben: „wer aus mir trinkt, iſt es ein Mann, wird er ein Tiger, iſt es ein Weib, wird es ein Lamm.“ Da ſprach das Maͤdchen: „ach! lieber Bruder, trink nicht aus der Quelle, ſonſt wirſt du ein Tiger und zerreißeſt mich.“ Da ſagte der Bruder, er wolle noch war- ten, ob ihn gleich der Durſt ſo quaͤle bis zur naͤch- ſten Quelle. Wie ſie aber an die naͤchſte Quelle kamen, ſtand daran: „wer aus mir trinkt, wird ein Wolf.“ Da ſprach das Maͤdchen wieder, „lie- ber, ach lieber Bruder trink nicht, ſonſt frißt du mich.“ Der Bruder ſprach: „noch einmal will ich meinen Durſt bezaͤhmen, aber laͤnger kann ich nicht mehr;“ und ſie kamen zu einer dritten Quel- le, daran war geſchrieben: „wer aus mir trinkt und iſt es ein Mann, wird er ein goldener Hirſch, iſt es ein Maͤdchen, wird es groß und ſchoͤn.“ — Da legt ſich der Bruder nieder und trinkt und ſteht als ein goldener Hirſch auf, das Maͤdchen trinkt auch und wird noch ſchoͤner und groß, als waͤr es erwachſen. Dann legt es den Hirſch an ein Seil und fuͤhrt ihn fort, der Koͤnig ſieht den wunderbaren Hirſch und laͤßt ihn einfangen. Das Maͤdchen bleibt bei ihm und wird einmal behorcht, als ſie mit ihm ſpricht, da hoͤrt der Koͤnig, daß es die Schweſter von dem Goldhirſch iſt, und ver- maͤhlt ſich mit ihr. Die Mutter des Koͤnigs aber iſt neidiſch und will ſie verderben, ſie giebt ihr eine haͤßliche Geſtalt und macht, daß ſie ſoll ge- toͤdtet, der Hirſch aber vom Metzger geſchlachtet werden. — — Die Unſchuld aber kommt an den Tag, die Schwiegermutter wird in eine mit ſchar- fen Meſſern angefuͤllte Tonne gethan und einen Berg herabgerollt. Zu Rapunzel. No. 12. im Pentamerone II, 1. (Petrosinella), wo vieles anders und beſonders die zweite Haͤlfte lebendiger iſt, als im deutſchen Maͤrchen. Dieſes hat ſchon

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/430
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. VIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/430>, abgerufen am 24.11.2024.