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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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vierte in die Küche, das fünfte in den Schrank,
das sechste unter eine große Schüssel, das sie-
bente in die Wanduhr. Aber der Wolf fand sie
alle und verschluckte sie, außer das jüngste in der
Wanduhr, das blieb am Leben.

Wie der Wolf seine Lust gebüßt, ging er
fort, bald darauf kam die alte Geis nach Haus.
Was für ein Jammer! der Wolf war da gewe-
sen und hatte ihre lieben Kinder gefressen. Sie
glaubte sie wären alle todt, da sprang das jüngste
aus der Wanduhr, und erzählte, wie das Un-
glück gekommen war.

Der Wolf aber, weil er sich vollgefressen,
war auf eine grüne Wiese gegangen, hatte sich
in den Sonnenschein gelegt und war in einen
tiefen Schlaf gefallen. Die alte Geis dachte
daran, ob sie ihre Kinder nicht noch erretten
könnte, sagte darum zu dem jüngsten Geislein:
"nimm Zwirn, Nadel und Scheere und folg'
mir nach." Darauf ging sie hinaus und fand
den Wolf schnarchend auf der Wiese liegen:
"da liegt der garstige Wolf," sagte sie und be-
trachtete ihn von allen Seiten, nachdem er zum
Vieruhrenbrot meine sechs Kindlein hinunterge-
fressen hat, gieb mir einmal die Scheere her:
"Ach! wenn sie noch lebendig in seinem Leibe
wären!" Damit schnitt sie ihm den Bauch auf,
und die sechs Geiserchen, die er in der Gier
ganz verschluckt hatte, sprangen unversehrt her-

B 2

vierte in die Kuͤche, das fuͤnfte in den Schrank,
das ſechste unter eine große Schuͤſſel, das ſie-
bente in die Wanduhr. Aber der Wolf fand ſie
alle und verſchluckte ſie, außer das juͤngſte in der
Wanduhr, das blieb am Leben.

Wie der Wolf ſeine Luſt gebuͤßt, ging er
fort, bald darauf kam die alte Geis nach Haus.
Was fuͤr ein Jammer! der Wolf war da gewe-
ſen und hatte ihre lieben Kinder gefreſſen. Sie
glaubte ſie waͤren alle todt, da ſprang das juͤngſte
aus der Wanduhr, und erzaͤhlte, wie das Un-
gluͤck gekommen war.

Der Wolf aber, weil er ſich vollgefreſſen,
war auf eine gruͤne Wieſe gegangen, hatte ſich
in den Sonnenſchein gelegt und war in einen
tiefen Schlaf gefallen. Die alte Geis dachte
daran, ob ſie ihre Kinder nicht noch erretten
koͤnnte, ſagte darum zu dem juͤngſten Geislein:
„nimm Zwirn, Nadel und Scheere und folg'
mir nach.“ Darauf ging ſie hinaus und fand
den Wolf ſchnarchend auf der Wieſe liegen:
„da liegt der garſtige Wolf,“ ſagte ſie und be-
trachtete ihn von allen Seiten, nachdem er zum
Vieruhrenbrot meine ſechs Kindlein hinunterge-
freſſen hat, gieb mir einmal die Scheere her:
„Ach! wenn ſie noch lebendig in ſeinem Leibe
waͤren!“ Damit ſchnitt ſie ihm den Bauch auf,
und die ſechs Geiſerchen, die er in der Gier
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[19/0053] vierte in die Kuͤche, das fuͤnfte in den Schrank, das ſechste unter eine große Schuͤſſel, das ſie- bente in die Wanduhr. Aber der Wolf fand ſie alle und verſchluckte ſie, außer das juͤngſte in der Wanduhr, das blieb am Leben. Wie der Wolf ſeine Luſt gebuͤßt, ging er fort, bald darauf kam die alte Geis nach Haus. Was fuͤr ein Jammer! der Wolf war da gewe- ſen und hatte ihre lieben Kinder gefreſſen. Sie glaubte ſie waͤren alle todt, da ſprang das juͤngſte aus der Wanduhr, und erzaͤhlte, wie das Un- gluͤck gekommen war. Der Wolf aber, weil er ſich vollgefreſſen, war auf eine gruͤne Wieſe gegangen, hatte ſich in den Sonnenſchein gelegt und war in einen tiefen Schlaf gefallen. Die alte Geis dachte daran, ob ſie ihre Kinder nicht noch erretten koͤnnte, ſagte darum zu dem juͤngſten Geislein: „nimm Zwirn, Nadel und Scheere und folg' mir nach.“ Darauf ging ſie hinaus und fand den Wolf ſchnarchend auf der Wieſe liegen: „da liegt der garſtige Wolf,“ ſagte ſie und be- trachtete ihn von allen Seiten, nachdem er zum Vieruhrenbrot meine ſechs Kindlein hinunterge- freſſen hat, gieb mir einmal die Scheere her: „Ach! wenn ſie noch lebendig in ſeinem Leibe waͤren!“ Damit ſchnitt ſie ihm den Bauch auf, und die ſechs Geiſerchen, die er in der Gier ganz verſchluckt hatte, ſprangen unverſehrt her- B 2

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/53>, abgerufen am 21.11.2024.