dann vergnügt und spielte auf den Hügeln. Abends aber, wenn Schwesterchen müde war, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Reh- kälbchens, das war sein Kissen, und so schlief es ein; und hätte das Brüderchen nur seine mensch- liche Gestalt gehabt, das wäre ein herrliches Le- ben gewesen.
So lebten sie lange Jahre in dem Wald. Auf eine Zeit jagte der König und verirrte sich darin. Da fand er das Mädchen mit dem Thier- lein in dem Wald und war erstaunt über seine Schönheit. Er hob es zu sich auf sein Pferd und nahm es mit, und das Rehkälbchen lief an dem Seile nebenher. An dem königlichen Hofe ward ihm alle Ehre angethan, schöne Jungfrauen mußten es bedienen, doch war es selber schöner, als alle andern; das Rehkälbchen ließ es nie- mals von sich, und that ihm alles Gute an. Bald darauf starb die Königin, da ward das Schwesterchen mit dem König vermählt und lebte in allen Freuden.
Die Stiefmutter aber hatte von dem Glück gehört, das dem armen Schwesterchen begeg- net; sie dachte es wäre längst im Wald von den wilden Thieren gefressen worden, aber die hat- ten ihm nichts gethan, und nun war es Königin im Reich. Die Hexe war so böse darüber, daß sie nur darauf dachte, wie sie ihr das Glück ver- derben konnte. Als im folgenden Jahr die Kö-
dann vergnuͤgt und ſpielte auf den Huͤgeln. Abends aber, wenn Schweſterchen muͤde war, legte es ſeinen Kopf auf den Ruͤcken des Reh- kaͤlbchens, das war ſein Kiſſen, und ſo ſchlief es ein; und haͤtte das Bruͤderchen nur ſeine menſch- liche Geſtalt gehabt, das waͤre ein herrliches Le- ben geweſen.
So lebten ſie lange Jahre in dem Wald. Auf eine Zeit jagte der Koͤnig und verirrte ſich darin. Da fand er das Maͤdchen mit dem Thier- lein in dem Wald und war erſtaunt uͤber ſeine Schoͤnheit. Er hob es zu ſich auf ſein Pferd und nahm es mit, und das Rehkaͤlbchen lief an dem Seile nebenher. An dem koͤniglichen Hofe ward ihm alle Ehre angethan, ſchoͤne Jungfrauen mußten es bedienen, doch war es ſelber ſchoͤner, als alle andern; das Rehkaͤlbchen ließ es nie- mals von ſich, und that ihm alles Gute an. Bald darauf ſtarb die Koͤnigin, da ward das Schweſterchen mit dem Koͤnig vermaͤhlt und lebte in allen Freuden.
Die Stiefmutter aber hatte von dem Gluͤck gehoͤrt, das dem armen Schweſterchen begeg- net; ſie dachte es waͤre laͤngſt im Wald von den wilden Thieren gefreſſen worden, aber die hat- ten ihm nichts gethan, und nun war es Koͤnigin im Reich. Die Hexe war ſo boͤſe daruͤber, daß ſie nur darauf dachte, wie ſie ihr das Gluͤck ver- derben konnte. Als im folgenden Jahr die Koͤ-
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dann vergnuͤgt und ſpielte auf den Huͤgeln.
Abends aber, wenn Schweſterchen muͤde war,
legte es ſeinen Kopf auf den Ruͤcken des Reh-
kaͤlbchens, das war ſein Kiſſen, und ſo ſchlief es
ein; und haͤtte das Bruͤderchen nur ſeine menſch-
liche Geſtalt gehabt, das waͤre ein herrliches Le-
ben geweſen.
So lebten ſie lange Jahre in dem Wald.
Auf eine Zeit jagte der Koͤnig und verirrte ſich
darin. Da fand er das Maͤdchen mit dem Thier-
lein in dem Wald und war erſtaunt uͤber ſeine
Schoͤnheit. Er hob es zu ſich auf ſein Pferd
und nahm es mit, und das Rehkaͤlbchen lief an
dem Seile nebenher. An dem koͤniglichen Hofe
ward ihm alle Ehre angethan, ſchoͤne Jungfrauen
mußten es bedienen, doch war es ſelber ſchoͤner,
als alle andern; das Rehkaͤlbchen ließ es nie-
mals von ſich, und that ihm alles Gute an.
Bald darauf ſtarb die Koͤnigin, da ward das
Schweſterchen mit dem Koͤnig vermaͤhlt und
lebte in allen Freuden.
Die Stiefmutter aber hatte von dem Gluͤck
gehoͤrt, das dem armen Schweſterchen begeg-
net; ſie dachte es waͤre laͤngſt im Wald von den
wilden Thieren gefreſſen worden, aber die hat-
ten ihm nichts gethan, und nun war es Koͤnigin
im Reich. Die Hexe war ſo boͤſe daruͤber, daß
ſie nur darauf dachte, wie ſie ihr das Gluͤck ver-
derben konnte. Als im folgenden Jahr die Koͤ-
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/70>, abgerufen am 24.11.2024.
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