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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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daß er sich ganz in sie verliebte. Da aber keine
Thüre im Thurm war und keine Leiter so hoch
reichen konnte, so gerieth er in Verzweiflung,
doch ging er alle Tage in den Wald hin, bis
er einstmals die Fee kommen sah, die sprach:

"Rapunzel, Rapunzel!
laß dein Haar herunter."

Darauf sah er wohl, auf welcher Leiter man in
den Thurm kommen konnte. Er hatte sich aber
die Worte wohl gemerkt, die man sprechen muß-
te, und des andern Tages, als es dunkel war,
ging er an den Thurm und sprach hinauf:

["]Rapunzel, Rapunzel,
laß dein Haar herunter!["]

da ließ sie die Haare los, und wie sie unten
waren, machte er sich daran fest und wurde hin-
aufgezogen.

Rapunzel erschrack nun anfangs, bald aber
gefiel ihr der junge König so gut, daß sie mit
ihm verabredete, er solle alle Tage kommen und
hinaufgezogen werden. So lebten sie lustig und
in Freuden eine geraume Zeit, und die Fee kam
nicht dahinter, bis eines Tages das Rapunzel
anfing und zu ihr sagte: "sag' sie mir doch Frau
Gothel, meine Kleiderchen werden mir so eng
und wollen nicht mehr passen." Ach du gottlo-
ses Kind, sprach die Fee, was muß ich von dir
hören, und sie merkte gleich, wie sie betrogen
wäre, und war ganz aufgebracht. Da nahm sie

daß er ſich ganz in ſie verliebte. Da aber keine
Thuͤre im Thurm war und keine Leiter ſo hoch
reichen konnte, ſo gerieth er in Verzweiflung,
doch ging er alle Tage in den Wald hin, bis
er einſtmals die Fee kommen ſah, die ſprach:

„Rapunzel, Rapunzel!
laß dein Haar herunter.“

Darauf ſah er wohl, auf welcher Leiter man in
den Thurm kommen konnte. Er hatte ſich aber
die Worte wohl gemerkt, die man ſprechen muß-
te, und des andern Tages, als es dunkel war,
ging er an den Thurm und ſprach hinauf:

[„]Rapunzel, Rapunzel,
laß dein Haar herunter![“]

da ließ ſie die Haare los, und wie ſie unten
waren, machte er ſich daran feſt und wurde hin-
aufgezogen.

Rapunzel erſchrack nun anfangs, bald aber
gefiel ihr der junge Koͤnig ſo gut, daß ſie mit
ihm verabredete, er ſolle alle Tage kommen und
hinaufgezogen werden. So lebten ſie luſtig und
in Freuden eine geraume Zeit, und die Fee kam
nicht dahinter, bis eines Tages das Rapunzel
anfing und zu ihr ſagte: „ſag' ſie mir doch Frau
Gothel, meine Kleiderchen werden mir ſo eng
und wollen nicht mehr paſſen.“ Ach du gottlo-
ſes Kind, ſprach die Fee, was muß ich von dir
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[41/0075] daß er ſich ganz in ſie verliebte. Da aber keine Thuͤre im Thurm war und keine Leiter ſo hoch reichen konnte, ſo gerieth er in Verzweiflung, doch ging er alle Tage in den Wald hin, bis er einſtmals die Fee kommen ſah, die ſprach: „Rapunzel, Rapunzel! laß dein Haar herunter.“ Darauf ſah er wohl, auf welcher Leiter man in den Thurm kommen konnte. Er hatte ſich aber die Worte wohl gemerkt, die man ſprechen muß- te, und des andern Tages, als es dunkel war, ging er an den Thurm und ſprach hinauf: „Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter!“ da ließ ſie die Haare los, und wie ſie unten waren, machte er ſich daran feſt und wurde hin- aufgezogen. Rapunzel erſchrack nun anfangs, bald aber gefiel ihr der junge Koͤnig ſo gut, daß ſie mit ihm verabredete, er ſolle alle Tage kommen und hinaufgezogen werden. So lebten ſie luſtig und in Freuden eine geraume Zeit, und die Fee kam nicht dahinter, bis eines Tages das Rapunzel anfing und zu ihr ſagte: „ſag' ſie mir doch Frau Gothel, meine Kleiderchen werden mir ſo eng und wollen nicht mehr paſſen.“ Ach du gottlo- ſes Kind, ſprach die Fee, was muß ich von dir hoͤren, und ſie merkte gleich, wie ſie betrogen waͤre, und war ganz aufgebracht. Da nahm ſie

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/75>, abgerufen am 21.11.2024.