sprach: "schlaf nur, lieb Gretel, der liebe Gott wird uns schon helfen."
Morgens früh erhielten sie ihr Stücklein Brod, noch kleiner als das vorigemal. Auf dem Wege bröckelte es Hänsel in der Tasche, stand oft still, und warf ein Bröcklein an die Erde. "Was bleibst du immer stehen, Hänsel, und guckst dich um, sagte der Vater, geh dei- ner Wege." -- "Ach! ich seh nach meinem Täubchen, das sitzt auf dem Dach und will mir Ade sagen" -- "du Narr, sagte die Mutter, das ist dein Täubchen nicht, das ist die Morgenson- ne, die auf den Schornstein oben scheint." Hänsel aber zerbröckelte all sein Brod und warf die Bröcklein auf den Weg.
Die Mutter aber führte sie noch tiefer in den Wald hinein, wo sie ihr Lebtag nicht ge- wesen waren, da sollten sie wieder einschlafen bei einem großen Feuer, und Abends wollten die Eltern kommen und sie abholen. Zu Mit- tag theilte Gretel ihr Brod mit Hänsel, weil der seins all auf den Weg gestreut; der Mit- tag verging und der Abend verging, aber nie- mand kam zu den armen Kindern. Hänsel trö- stete die Gretel und sagte: "wart, wenn der Mond aufgeht, dann seh ich die Bröcklein Brod, die ich ausgestreut habe, die zeigen uns den Weg nach Haus." Der Mond ging auf, wie aber Hänsel nach den Bröcklein sah, da
ſprach: „ſchlaf nur, lieb Gretel, der liebe Gott wird uns ſchon helfen.“
Morgens fruͤh erhielten ſie ihr Stuͤcklein Brod, noch kleiner als das vorigemal. Auf dem Wege broͤckelte es Haͤnſel in der Taſche, ſtand oft ſtill, und warf ein Broͤcklein an die Erde. „Was bleibſt du immer ſtehen, Haͤnſel, und guckſt dich um, ſagte der Vater, geh dei- ner Wege.“ — „Ach! ich ſeh nach meinem Taͤubchen, das ſitzt auf dem Dach und will mir Ade ſagen“ — „du Narr, ſagte die Mutter, das iſt dein Taͤubchen nicht, das iſt die Morgenſon- ne, die auf den Schornſtein oben ſcheint.“ Haͤnſel aber zerbroͤckelte all ſein Brod und warf die Broͤcklein auf den Weg.
Die Mutter aber fuͤhrte ſie noch tiefer in den Wald hinein, wo ſie ihr Lebtag nicht ge- weſen waren, da ſollten ſie wieder einſchlafen bei einem großen Feuer, und Abends wollten die Eltern kommen und ſie abholen. Zu Mit- tag theilte Gretel ihr Brod mit Haͤnſel, weil der ſeins all auf den Weg geſtreut; der Mit- tag verging und der Abend verging, aber nie- mand kam zu den armen Kindern. Haͤnſel troͤ- ſtete die Gretel und ſagte: „wart, wenn der Mond aufgeht, dann ſeh ich die Broͤcklein Brod, die ich ausgeſtreut habe, die zeigen uns den Weg nach Haus.“ Der Mond ging auf, wie aber Haͤnſel nach den Broͤcklein ſah, da
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ſprach: „ſchlaf nur, lieb Gretel, der liebe Gott
wird uns ſchon helfen.“
Morgens fruͤh erhielten ſie ihr Stuͤcklein
Brod, noch kleiner als das vorigemal. Auf
dem Wege broͤckelte es Haͤnſel in der Taſche,
ſtand oft ſtill, und warf ein Broͤcklein an die
Erde. „Was bleibſt du immer ſtehen, Haͤnſel,
und guckſt dich um, ſagte der Vater, geh dei-
ner Wege.“ — „Ach! ich ſeh nach meinem
Taͤubchen, das ſitzt auf dem Dach und will mir
Ade ſagen“ — „du Narr, ſagte die Mutter, das
iſt dein Taͤubchen nicht, das iſt die Morgenſon-
ne, die auf den Schornſtein oben ſcheint.“
Haͤnſel aber zerbroͤckelte all ſein Brod und warf
die Broͤcklein auf den Weg.
Die Mutter aber fuͤhrte ſie noch tiefer in
den Wald hinein, wo ſie ihr Lebtag nicht ge-
weſen waren, da ſollten ſie wieder einſchlafen
bei einem großen Feuer, und Abends wollten
die Eltern kommen und ſie abholen. Zu Mit-
tag theilte Gretel ihr Brod mit Haͤnſel, weil
der ſeins all auf den Weg geſtreut; der Mit-
tag verging und der Abend verging, aber nie-
mand kam zu den armen Kindern. Haͤnſel troͤ-
ſtete die Gretel und ſagte: „wart, wenn der
Mond aufgeht, dann ſeh ich die Broͤcklein
Brod, die ich ausgeſtreut habe, die zeigen uns
den Weg nach Haus.“ Der Mond ging auf,
wie aber Haͤnſel nach den Broͤcklein ſah, da
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/87>, abgerufen am 24.11.2024.
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