Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.stand und ihn heftig schalt, daß er es wage in ihren Garten zu kommen und daraus zu stehlen. Er entschuldigte sich, so gut er konnte, mit dem Gelüsten seiner Frau, und wie gefährlich es sey, ihr jetzt etwas abzuschlagen, endlich sprach die Zauberin: "ich will mich zufrieden geben und dir selbst gestatten Rapunzeln mitzunehmen, so viel du willst, wofern du mir das Kind geben wirst, das deine Frau gebiert." Jn der Angst sagte der Mann alles zu, und als die Frau in Wochen kam, erschien die Zauberin sogleich, nannte das kleine Mädchen Rapunzel und nahm es mit sich fort. Dieses Rapunzel wurde das schönste Kind unter der Sonne, wie es aber zwölf Jahr alt war, so schloß es die Zauberin in einen hohen hohen Thurm, der hatte weder Thür noch Treppe, nur bloß ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn nun die Zauberin hinein wollte, so stand sie unten und rief: "Rapunzel, Rapunzel!
laß mir dein Haar herunter." Rapunzel hatte aber prächtige lange Haare, fein wie gesponnen Gold, und wenn die Zauberin so rief, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief hinunter und die Zauberin stieg daran hinauf. Eines Tages kam nun ein junger Königssohn durch den Wald, wo der Thurm stand, sah das schöne Rapunzel oben am Fenster stehen und hörte sie mit so süßer Stimme singen, daß er sich ganz in sie verliebte. Da aber keine Thüre im Thurm war und keine Leiter so hoch reichen konnte, so gerieth er in Verzweiflung; doch ging stand und ihn heftig schalt, daß er es wage in ihren Garten zu kommen und daraus zu stehlen. Er entschuldigte sich, so gut er konnte, mit dem Geluͤsten seiner Frau, und wie gefaͤhrlich es sey, ihr jetzt etwas abzuschlagen, endlich sprach die Zauberin: „ich will mich zufrieden geben und dir selbst gestatten Rapunzeln mitzunehmen, so viel du willst, wofern du mir das Kind geben wirst, das deine Frau gebiert.“ Jn der Angst sagte der Mann alles zu, und als die Frau in Wochen kam, erschien die Zauberin sogleich, nannte das kleine Maͤdchen Rapunzel und nahm es mit sich fort. Dieses Rapunzel wurde das schoͤnste Kind unter der Sonne, wie es aber zwoͤlf Jahr alt war, so schloß es die Zauberin in einen hohen hohen Thurm, der hatte weder Thuͤr noch Treppe, nur bloß ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn nun die Zauberin hinein wollte, so stand sie unten und rief: „Rapunzel, Rapunzel!
laß mir dein Haar herunter.“ Rapunzel hatte aber praͤchtige lange Haare, fein wie gesponnen Gold, und wenn die Zauberin so rief, so band sie ihre Zoͤpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief hinunter und die Zauberin stieg daran hinauf. Eines Tages kam nun ein junger Koͤnigssohn durch den Wald, wo der Thurm stand, sah das schoͤne Rapunzel oben am Fenster stehen und hoͤrte sie mit so suͤßer Stimme singen, daß er sich ganz in sie verliebte. Da aber keine Thuͤre im Thurm war und keine Leiter so hoch reichen konnte, so gerieth er in Verzweiflung; doch ging <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0131" n="67"/> stand und ihn heftig schalt, daß er es wage in ihren Garten zu kommen und daraus zu stehlen. Er entschuldigte sich, so gut er konnte, mit dem Geluͤsten seiner Frau, und wie gefaͤhrlich es sey, ihr jetzt etwas abzuschlagen, endlich sprach die Zauberin: „ich will mich zufrieden geben und dir selbst gestatten Rapunzeln mitzunehmen, so viel du willst, wofern du mir das Kind geben wirst, das deine Frau gebiert.“ Jn der Angst sagte der Mann alles zu, und als die Frau in Wochen kam, erschien die Zauberin sogleich, nannte das kleine Maͤdchen <hi rendition="#g">Rapunzel</hi> und nahm es mit sich fort.</p><lb/> <p>Dieses Rapunzel wurde das schoͤnste Kind unter der Sonne, wie es aber zwoͤlf Jahr alt war, so schloß es die Zauberin in einen hohen hohen Thurm, der hatte weder Thuͤr noch Treppe, nur bloß ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn nun die Zauberin hinein wollte, so stand sie unten und rief:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Rapunzel, Rapunzel!</l><lb/> <l>laß mir dein Haar herunter.“</l><lb/> </lg> <p>Rapunzel hatte aber praͤchtige lange Haare, fein wie gesponnen Gold, und wenn die Zauberin so rief, so band sie ihre Zoͤpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief hinunter und die Zauberin stieg daran hinauf.</p><lb/> <p>Eines Tages kam nun ein junger Koͤnigssohn durch den Wald, wo der Thurm stand, sah das schoͤne Rapunzel oben am Fenster stehen und hoͤrte sie mit so suͤßer Stimme singen, daß er sich ganz in sie verliebte. Da aber keine Thuͤre im Thurm war und keine Leiter so hoch reichen konnte, so gerieth er in Verzweiflung; doch ging </p> </div> </body> </text> </TEI> [67/0131]
stand und ihn heftig schalt, daß er es wage in ihren Garten zu kommen und daraus zu stehlen. Er entschuldigte sich, so gut er konnte, mit dem Geluͤsten seiner Frau, und wie gefaͤhrlich es sey, ihr jetzt etwas abzuschlagen, endlich sprach die Zauberin: „ich will mich zufrieden geben und dir selbst gestatten Rapunzeln mitzunehmen, so viel du willst, wofern du mir das Kind geben wirst, das deine Frau gebiert.“ Jn der Angst sagte der Mann alles zu, und als die Frau in Wochen kam, erschien die Zauberin sogleich, nannte das kleine Maͤdchen Rapunzel und nahm es mit sich fort.
Dieses Rapunzel wurde das schoͤnste Kind unter der Sonne, wie es aber zwoͤlf Jahr alt war, so schloß es die Zauberin in einen hohen hohen Thurm, der hatte weder Thuͤr noch Treppe, nur bloß ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn nun die Zauberin hinein wollte, so stand sie unten und rief:
„Rapunzel, Rapunzel!
laß mir dein Haar herunter.“
Rapunzel hatte aber praͤchtige lange Haare, fein wie gesponnen Gold, und wenn die Zauberin so rief, so band sie ihre Zoͤpfe los, wickelte sie oben um einen Fensterhaken und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief hinunter und die Zauberin stieg daran hinauf.
Eines Tages kam nun ein junger Koͤnigssohn durch den Wald, wo der Thurm stand, sah das schoͤne Rapunzel oben am Fenster stehen und hoͤrte sie mit so suͤßer Stimme singen, daß er sich ganz in sie verliebte. Da aber keine Thuͤre im Thurm war und keine Leiter so hoch reichen konnte, so gerieth er in Verzweiflung; doch ging
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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.
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