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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

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Bedeutung: die Mutter wird in dem Augenblick ihr rechtes Kind wieder im Arme haben, wo sie den Wechselbalg, den ihr die Hausgeister dafür gegeben, zum Lachen bringen kann, denn in dem Lächeln fängt das Leben des Kindes an, und währt in der Freude fort, und darum reden beim Lächeln im Schlaf die Engel mit ihm. Eine Viertelstunde täglich ist über der Macht des Zaubers, wo die menschliche Gestalt frei hervortritt, weil keine Gewalt uns ganz einhüllen kann und jeder Tag Augenblicke gewährt, wo der Mensch alles Falsche abschüttelt und frei und ungebunden aus sich selbst herausblicken kann. Dagegen wird der Zauber auch nicht ganz gelöset, ein Fehler wird begangen und ein Schwanenflügel bleibt statt des Arms, oder weil eine Thräne gefallen, ist ein Auge mit ihr verloren. Durch den Dummling wird die weltliche Klugheit gedemüthigt, denn er, weil er reines Herzens ist, gewinnt allein das Glück. Jede wahre Poesie ist der mannigfaltigsten Auslegung fähig, denn da sie aus dem Leben aufgestiegen ist, kehrt sie auch immer wieder zu ihm zurück; sie trifft uns wie das Sonnenlicht, wo wir auch stehen; darin ist es gegründet, wenn sich so leicht aus diesen Märchen eine gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart ergiebt; es war weder ihr Zweck, noch sind sie, wenige ausgenommen, deshalb entstanden, aber es erwächst daraus, wie eine gute Frucht aus einer gesunden Blüte, ohne Zuthun der Menschen*).


*) "Die wahre Darstellung hat keinen didactischen Zweck. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge, und dadurch erleuchtet u. belehrt sie." Göthes Leben III. 350.

Bedeutung: die Mutter wird in dem Augenblick ihr rechtes Kind wieder im Arme haben, wo sie den Wechselbalg, den ihr die Hausgeister dafuͤr gegeben, zum Lachen bringen kann, denn in dem Laͤcheln faͤngt das Leben des Kindes an, und waͤhrt in der Freude fort, und darum reden beim Laͤcheln im Schlaf die Engel mit ihm. Eine Viertelstunde taͤglich ist uͤber der Macht des Zaubers, wo die menschliche Gestalt frei hervortritt, weil keine Gewalt uns ganz einhuͤllen kann und jeder Tag Augenblicke gewaͤhrt, wo der Mensch alles Falsche abschuͤttelt und frei und ungebunden aus sich selbst herausblicken kann. Dagegen wird der Zauber auch nicht ganz geloͤset, ein Fehler wird begangen und ein Schwanenfluͤgel bleibt statt des Arms, oder weil eine Thraͤne gefallen, ist ein Auge mit ihr verloren. Durch den Dummling wird die weltliche Klugheit gedemuͤthigt, denn er, weil er reines Herzens ist, gewinnt allein das Gluͤck. Jede wahre Poesie ist der mannigfaltigsten Auslegung faͤhig, denn da sie aus dem Leben aufgestiegen ist, kehrt sie auch immer wieder zu ihm zuruͤck; sie trifft uns wie das Sonnenlicht, wo wir auch stehen; darin ist es gegruͤndet, wenn sich so leicht aus diesen Maͤrchen eine gute Lehre, eine Anwendung fuͤr die Gegenwart ergiebt; es war weder ihr Zweck, noch sind sie, wenige ausgenommen, deshalb entstanden, aber es erwaͤchst daraus, wie eine gute Frucht aus einer gesunden Bluͤte, ohne Zuthun der Menschen*).


*) „Die wahre Darstellung hat keinen didactischen Zweck. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge, und dadurch erleuchtet u. belehrt sie.“ Goͤthes Leben III. 350.
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[XXIV/0032] Bedeutung: die Mutter wird in dem Augenblick ihr rechtes Kind wieder im Arme haben, wo sie den Wechselbalg, den ihr die Hausgeister dafuͤr gegeben, zum Lachen bringen kann, denn in dem Laͤcheln faͤngt das Leben des Kindes an, und waͤhrt in der Freude fort, und darum reden beim Laͤcheln im Schlaf die Engel mit ihm. Eine Viertelstunde taͤglich ist uͤber der Macht des Zaubers, wo die menschliche Gestalt frei hervortritt, weil keine Gewalt uns ganz einhuͤllen kann und jeder Tag Augenblicke gewaͤhrt, wo der Mensch alles Falsche abschuͤttelt und frei und ungebunden aus sich selbst herausblicken kann. Dagegen wird der Zauber auch nicht ganz geloͤset, ein Fehler wird begangen und ein Schwanenfluͤgel bleibt statt des Arms, oder weil eine Thraͤne gefallen, ist ein Auge mit ihr verloren. Durch den Dummling wird die weltliche Klugheit gedemuͤthigt, denn er, weil er reines Herzens ist, gewinnt allein das Gluͤck. Jede wahre Poesie ist der mannigfaltigsten Auslegung faͤhig, denn da sie aus dem Leben aufgestiegen ist, kehrt sie auch immer wieder zu ihm zuruͤck; sie trifft uns wie das Sonnenlicht, wo wir auch stehen; darin ist es gegruͤndet, wenn sich so leicht aus diesen Maͤrchen eine gute Lehre, eine Anwendung fuͤr die Gegenwart ergiebt; es war weder ihr Zweck, noch sind sie, wenige ausgenommen, deshalb entstanden, aber es erwaͤchst daraus, wie eine gute Frucht aus einer gesunden Bluͤte, ohne Zuthun der Menschen *). *) „Die wahre Darstellung hat keinen didactischen Zweck. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge, und dadurch erleuchtet u. belehrt sie.“ Goͤthes Leben III. 350.

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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. XXIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/32>, abgerufen am 24.11.2024.