Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.vergossen werden, ließ in der Nacht eine Hirschkuh holen, schnitt ihr Zunge und Augen aus, und hob sie auf. Dann sprach sie zu der Königin 'ich kann dich nicht tödten lassen, wie der König befiehlt, aber länger darfst du nicht hier bleiben: geh mit deinem Kinde in die weite Welt hinein, und komm nie wieder zurück.' Sie band ihr das Kind auf den Rücken, und die arme Frau gieng mit weiniglichen Augen fort. Sie kam in einen großen wilden Wald, da setzte sie sich auf ihre Knie, und betete zu Gott, und der Engel des Herrn erschien ihr, und führte sie zu einem kleinen Haus, daran war ein Schildchen mit den Worten 'hier wohnt ein jeder frei.' Aus dem Häuschen kam eine schneeweiße Jungfrau, die sprach 'willkommen, Frau Königin,' und führte sie hinein. Da band sie ihr den kleinen Knaben von dem Rücken, und hielt ihn an ihre Brust, damit er trank, und legte ihn dann auf ein schönes gemachtes Bettchen. Da sprach die arme Frau 'woher weißt du daß ich eine Königin war?' Die weiße Jungfrau antwortete 'ich bin ein Engel, von Gott gesandt, dich und dein Kind zu verpflegen.' Da blieb sie in dem Hause sieben Jahre, und war wohl verpflegt, und durch Gottes Gnade wegen ihrer Frömmigkeit wuchsen ihr die abgehauenen Hände wieder. Der König kam endlich aus dem Felde wieder nach Haus, und sein erstes war daß er seine Frau mit dem Kinde sehen wollte. Da fieng die alte Mutter an zu weinen, und sprach 'du böser Mann, was hast du mir geschrieben daß ich zwei unschuldige Seelen ums Leben bringen sollte!' und zeigte ihm die beiden vergossen werden, ließ in der Nacht eine Hirschkuh holen, schnitt ihr Zunge und Augen aus, und hob sie auf. Dann sprach sie zu der Koͤnigin ‘ich kann dich nicht toͤdten lassen, wie der Koͤnig befiehlt, aber laͤnger darfst du nicht hier bleiben: geh mit deinem Kinde in die weite Welt hinein, und komm nie wieder zuruͤck.’ Sie band ihr das Kind auf den Ruͤcken, und die arme Frau gieng mit weiniglichen Augen fort. Sie kam in einen großen wilden Wald, da setzte sie sich auf ihre Knie, und betete zu Gott, und der Engel des Herrn erschien ihr, und fuͤhrte sie zu einem kleinen Haus, daran war ein Schildchen mit den Worten ‘hier wohnt ein jeder frei.’ Aus dem Haͤuschen kam eine schneeweiße Jungfrau, die sprach ‘willkommen, Frau Koͤnigin,’ und fuͤhrte sie hinein. Da band sie ihr den kleinen Knaben von dem Ruͤcken, und hielt ihn an ihre Brust, damit er trank, und legte ihn dann auf ein schoͤnes gemachtes Bettchen. Da sprach die arme Frau ‘woher weißt du daß ich eine Koͤnigin war?’ Die weiße Jungfrau antwortete ‘ich bin ein Engel, von Gott gesandt, dich und dein Kind zu verpflegen.’ Da blieb sie in dem Hause sieben Jahre, und war wohl verpflegt, und durch Gottes Gnade wegen ihrer Froͤmmigkeit wuchsen ihr die abgehauenen Haͤnde wieder. Der Koͤnig kam endlich aus dem Felde wieder nach Haus, und sein erstes war daß er seine Frau mit dem Kinde sehen wollte. Da fieng die alte Mutter an zu weinen, und sprach ‘du boͤser Mann, was hast du mir geschrieben daß ich zwei unschuldige Seelen ums Leben bringen sollte!’ und zeigte ihm die beiden <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0225" n="194"/> vergossen werden, ließ in der Nacht eine Hirschkuh holen, schnitt ihr Zunge und Augen aus, und hob sie auf. Dann sprach sie zu der Koͤnigin ‘ich kann dich nicht toͤdten lassen, wie der Koͤnig befiehlt, aber laͤnger darfst du nicht hier bleiben: geh mit deinem Kinde in die weite Welt hinein, und komm nie wieder zuruͤck.’ Sie band ihr das Kind auf den Ruͤcken, und die arme Frau gieng mit weiniglichen Augen fort. Sie kam in einen großen wilden Wald, da setzte sie sich auf ihre Knie, und betete zu Gott, und der Engel des Herrn erschien ihr, und fuͤhrte sie zu einem kleinen Haus, daran war ein Schildchen mit den Worten ‘hier wohnt ein jeder frei.’ Aus dem Haͤuschen kam eine schneeweiße Jungfrau, die sprach ‘willkommen, Frau Koͤnigin,’ und fuͤhrte sie hinein. Da band sie ihr den kleinen Knaben von dem Ruͤcken, und hielt ihn an ihre Brust, damit er trank, und legte ihn dann auf ein schoͤnes gemachtes Bettchen. Da sprach die arme Frau ‘woher weißt du daß ich eine Koͤnigin war?’ Die weiße Jungfrau antwortete ‘ich bin ein Engel, von Gott gesandt, dich und dein Kind zu verpflegen.’ Da blieb sie in dem Hause sieben Jahre, und war wohl verpflegt, und durch Gottes Gnade wegen ihrer Froͤmmigkeit wuchsen ihr die abgehauenen Haͤnde wieder.</p><lb/> <p>Der Koͤnig kam endlich aus dem Felde wieder nach Haus, und sein erstes war daß er seine Frau mit dem Kinde sehen wollte. Da fieng die alte Mutter an zu weinen, und sprach ‘du boͤser Mann, was hast du mir geschrieben daß ich zwei unschuldige Seelen ums Leben bringen sollte!’ und zeigte ihm die beiden </p> </div> </body> </text> </TEI> [194/0225]
vergossen werden, ließ in der Nacht eine Hirschkuh holen, schnitt ihr Zunge und Augen aus, und hob sie auf. Dann sprach sie zu der Koͤnigin ‘ich kann dich nicht toͤdten lassen, wie der Koͤnig befiehlt, aber laͤnger darfst du nicht hier bleiben: geh mit deinem Kinde in die weite Welt hinein, und komm nie wieder zuruͤck.’ Sie band ihr das Kind auf den Ruͤcken, und die arme Frau gieng mit weiniglichen Augen fort. Sie kam in einen großen wilden Wald, da setzte sie sich auf ihre Knie, und betete zu Gott, und der Engel des Herrn erschien ihr, und fuͤhrte sie zu einem kleinen Haus, daran war ein Schildchen mit den Worten ‘hier wohnt ein jeder frei.’ Aus dem Haͤuschen kam eine schneeweiße Jungfrau, die sprach ‘willkommen, Frau Koͤnigin,’ und fuͤhrte sie hinein. Da band sie ihr den kleinen Knaben von dem Ruͤcken, und hielt ihn an ihre Brust, damit er trank, und legte ihn dann auf ein schoͤnes gemachtes Bettchen. Da sprach die arme Frau ‘woher weißt du daß ich eine Koͤnigin war?’ Die weiße Jungfrau antwortete ‘ich bin ein Engel, von Gott gesandt, dich und dein Kind zu verpflegen.’ Da blieb sie in dem Hause sieben Jahre, und war wohl verpflegt, und durch Gottes Gnade wegen ihrer Froͤmmigkeit wuchsen ihr die abgehauenen Haͤnde wieder.
Der Koͤnig kam endlich aus dem Felde wieder nach Haus, und sein erstes war daß er seine Frau mit dem Kinde sehen wollte. Da fieng die alte Mutter an zu weinen, und sprach ‘du boͤser Mann, was hast du mir geschrieben daß ich zwei unschuldige Seelen ums Leben bringen sollte!’ und zeigte ihm die beiden
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Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/225>, abgerufen am 16.02.2025. |