Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.ein poetisches Bilden und Fortbilden liegt, ohne welches auch eine Überlieferung etwas Unfruchtbares und Abgestorbenes wäre, ja eben dies ist mit Ursache, warum jede Gegend nach ihrer Eigenthümlichkeit, jeder Mund anders erzählt. Aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen ähnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getränkten Entfalten, und einer absichtlichen, alles nach Willkür zusammenknüpfenden und auch wohl leimenden Umänderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen können. Die einzige Richtschnur wäre dann die von seiner Bildung abhängende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, während bei jenem natürlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besondern Gelüsten vorzudringen nicht erlaubt. Räumt man den Überlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt gibt man zu daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn wo lebt sie wirklich als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kühlt und erfrischt, oder wärmt ein poetisches Bilden und Fortbilden liegt, ohne welches auch eine Überlieferung etwas Unfruchtbares und Abgestorbenes waͤre, ja eben dies ist mit Ursache, warum jede Gegend nach ihrer Eigenthuͤmlichkeit, jeder Mund anders erzaͤhlt. Aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen aͤhnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getraͤnkten Entfalten, und einer absichtlichen, alles nach Willkuͤr zusammenknuͤpfenden und auch wohl leimenden Umaͤnderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen koͤnnen. Die einzige Richtschnur waͤre dann die von seiner Bildung abhaͤngende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, waͤhrend bei jenem natuͤrlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besondern Geluͤsten vorzudringen nicht erlaubt. Raͤumt man den Überlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt gibt man zu daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn wo lebt sie wirklich als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kuͤhlt und erfrischt, oder waͤrmt <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0023" n="XX"/> ein poetisches Bilden und Fortbilden liegt, ohne welches auch eine Überlieferung etwas Unfruchtbares und Abgestorbenes waͤre, ja eben dies ist mit Ursache, warum jede Gegend nach ihrer Eigenthuͤmlichkeit, jeder Mund anders erzaͤhlt. Aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen aͤhnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getraͤnkten Entfalten, und einer absichtlichen, alles nach Willkuͤr zusammenknuͤpfenden und auch wohl leimenden Umaͤnderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen koͤnnen. Die einzige Richtschnur waͤre dann die von seiner Bildung abhaͤngende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, waͤhrend bei jenem natuͤrlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besondern Geluͤsten vorzudringen nicht erlaubt. Raͤumt man den Überlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt gibt man zu daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn wo lebt sie wirklich als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kuͤhlt und erfrischt, oder waͤrmt </p> </div> </front> </text> </TEI> [XX/0023]
ein poetisches Bilden und Fortbilden liegt, ohne welches auch eine Überlieferung etwas Unfruchtbares und Abgestorbenes waͤre, ja eben dies ist mit Ursache, warum jede Gegend nach ihrer Eigenthuͤmlichkeit, jeder Mund anders erzaͤhlt. Aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen aͤhnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getraͤnkten Entfalten, und einer absichtlichen, alles nach Willkuͤr zusammenknuͤpfenden und auch wohl leimenden Umaͤnderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen koͤnnen. Die einzige Richtschnur waͤre dann die von seiner Bildung abhaͤngende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, waͤhrend bei jenem natuͤrlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besondern Geluͤsten vorzudringen nicht erlaubt. Raͤumt man den Überlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt gibt man zu daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn wo lebt sie wirklich als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kuͤhlt und erfrischt, oder waͤrmt
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