Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Hexe gerieth in Wuth, sprang ans Fenster, und da sie weit in die Welt schauen konnte, erblickte sie ihre Stieftochter, die mit ihrem Liebsten Roland fort eilte. 'Das soll euch nichts helfen,' rief sie, 'wenn ihr auch schon weit weg seyd, ihr entflieht mir doch nicht.' Sie zog ihre Meilenstiefeln an, in welchen sie mit jedem Schritt eine Stunde machte, und es dauerte nicht lange so hatte sie beide eingeholt. Das Mädchen aber, wie es die Alte daher schreiten sah, verwandelte mit dem Zauberstab seinen Liebsten Roland in einen See, sich selbst aber in eine Ente, die mitten auf dem See schwamm. Die Hexe stellte sich ans Ufer, warf Brotbrocken hinein, und gab sich alle Mühe die Ente herbeizulocken, aber die Ente ließ sich nicht locken, und die Alte mußte Abends unverrichteter Sache wieder umkehren. Darauf nahm das Mädchen mit seinem Liebsten Roland wieder die natürliche Gestalt an, und sie giengen die ganze Nacht weiter bis zu Tagesanbruch, da verwandelte sich das Mädchen in eine schöne Blume, die mitten in einer Dornhecke stand, seinen Liebsten Roland aber in einen Geigenspieler. Nicht lange so kam die Hexe herangeschritten, und sprach zu dem Spielmann 'lieber Spielmann, darf ich mir wohl die schöne Blume abbrechen?' 'O ja,' antwortete er, 'ich will dazu aufspielen.' Als sie nun mit Hast in die Hecke kroch, und die Blume brechen wollte, denn sie wußte wohl wer die Blume war, so fieng er an aufzuspielen, und sie mochte wollen oder nicht, sie mußte tanzen, denn es war ein Zaubertanz. Je schneller er spielte, desto gewaltigere Sprünge mußte sie machen, und die Dornen rissen ihr die Kleider vom Leibe

Die Hexe gerieth in Wuth, sprang ans Fenster, und da sie weit in die Welt schauen konnte, erblickte sie ihre Stieftochter, die mit ihrem Liebsten Roland fort eilte. ‘Das soll euch nichts helfen,’ rief sie, ‘wenn ihr auch schon weit weg seyd, ihr entflieht mir doch nicht.’ Sie zog ihre Meilenstiefeln an, in welchen sie mit jedem Schritt eine Stunde machte, und es dauerte nicht lange so hatte sie beide eingeholt. Das Maͤdchen aber, wie es die Alte daher schreiten sah, verwandelte mit dem Zauberstab seinen Liebsten Roland in einen See, sich selbst aber in eine Ente, die mitten auf dem See schwamm. Die Hexe stellte sich ans Ufer, warf Brotbrocken hinein, und gab sich alle Muͤhe die Ente herbeizulocken, aber die Ente ließ sich nicht locken, und die Alte mußte Abends unverrichteter Sache wieder umkehren. Darauf nahm das Maͤdchen mit seinem Liebsten Roland wieder die natuͤrliche Gestalt an, und sie giengen die ganze Nacht weiter bis zu Tagesanbruch, da verwandelte sich das Maͤdchen in eine schoͤne Blume, die mitten in einer Dornhecke stand, seinen Liebsten Roland aber in einen Geigenspieler. Nicht lange so kam die Hexe herangeschritten, und sprach zu dem Spielmann ‘lieber Spielmann, darf ich mir wohl die schoͤne Blume abbrechen?’ ‘O ja,’ antwortete er, ‘ich will dazu aufspielen.’ Als sie nun mit Hast in die Hecke kroch, und die Blume brechen wollte, denn sie wußte wohl wer die Blume war, so fieng er an aufzuspielen, und sie mochte wollen oder nicht, sie mußte tanzen, denn es war ein Zaubertanz. Je schneller er spielte, desto gewaltigere Spruͤnge mußte sie machen, und die Dornen rissen ihr die Kleider vom Leibe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0370" n="339"/>
Die Hexe gerieth in Wuth, sprang ans Fenster, und da sie weit in die Welt schauen konnte, erblickte sie ihre Stieftochter, die mit ihrem Liebsten Roland fort eilte. &#x2018;Das soll euch nichts helfen,&#x2019; rief sie, &#x2018;wenn ihr auch schon weit weg seyd, ihr entflieht mir doch nicht.&#x2019; Sie zog ihre Meilenstiefeln an, in welchen sie mit jedem Schritt eine Stunde machte, und es dauerte nicht lange so hatte sie beide eingeholt. Das Ma&#x0364;dchen aber, wie es die Alte daher schreiten sah, verwandelte mit dem Zauberstab seinen Liebsten Roland in einen See, sich selbst aber in eine Ente, die mitten auf dem See schwamm. Die Hexe stellte sich ans Ufer, warf Brotbrocken hinein, und gab sich alle Mu&#x0364;he die Ente herbeizulocken, aber die Ente ließ sich nicht locken, und die Alte mußte Abends unverrichteter Sache wieder umkehren. Darauf nahm das Ma&#x0364;dchen mit seinem Liebsten Roland wieder die natu&#x0364;rliche Gestalt an, und sie giengen die ganze Nacht weiter bis zu Tagesanbruch, da verwandelte sich das Ma&#x0364;dchen in eine scho&#x0364;ne Blume, die mitten in einer Dornhecke stand, seinen Liebsten Roland aber in einen Geigenspieler. Nicht lange so kam die Hexe herangeschritten, und sprach zu dem Spielmann &#x2018;lieber Spielmann, darf ich mir wohl die scho&#x0364;ne Blume abbrechen?&#x2019; &#x2018;O ja,&#x2019; antwortete er, &#x2018;ich will dazu aufspielen.&#x2019; Als sie nun mit Hast in die Hecke kroch, und die Blume brechen wollte, denn sie wußte wohl wer die Blume war, so fieng er an aufzuspielen, und sie mochte wollen oder nicht, sie mußte tanzen, denn es war ein Zaubertanz. Je schneller er spielte, desto gewaltigere Spru&#x0364;nge mußte sie machen, und die Dornen rissen ihr die Kleider vom Leibe
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[339/0370] Die Hexe gerieth in Wuth, sprang ans Fenster, und da sie weit in die Welt schauen konnte, erblickte sie ihre Stieftochter, die mit ihrem Liebsten Roland fort eilte. ‘Das soll euch nichts helfen,’ rief sie, ‘wenn ihr auch schon weit weg seyd, ihr entflieht mir doch nicht.’ Sie zog ihre Meilenstiefeln an, in welchen sie mit jedem Schritt eine Stunde machte, und es dauerte nicht lange so hatte sie beide eingeholt. Das Maͤdchen aber, wie es die Alte daher schreiten sah, verwandelte mit dem Zauberstab seinen Liebsten Roland in einen See, sich selbst aber in eine Ente, die mitten auf dem See schwamm. Die Hexe stellte sich ans Ufer, warf Brotbrocken hinein, und gab sich alle Muͤhe die Ente herbeizulocken, aber die Ente ließ sich nicht locken, und die Alte mußte Abends unverrichteter Sache wieder umkehren. Darauf nahm das Maͤdchen mit seinem Liebsten Roland wieder die natuͤrliche Gestalt an, und sie giengen die ganze Nacht weiter bis zu Tagesanbruch, da verwandelte sich das Maͤdchen in eine schoͤne Blume, die mitten in einer Dornhecke stand, seinen Liebsten Roland aber in einen Geigenspieler. Nicht lange so kam die Hexe herangeschritten, und sprach zu dem Spielmann ‘lieber Spielmann, darf ich mir wohl die schoͤne Blume abbrechen?’ ‘O ja,’ antwortete er, ‘ich will dazu aufspielen.’ Als sie nun mit Hast in die Hecke kroch, und die Blume brechen wollte, denn sie wußte wohl wer die Blume war, so fieng er an aufzuspielen, und sie mochte wollen oder nicht, sie mußte tanzen, denn es war ein Zaubertanz. Je schneller er spielte, desto gewaltigere Spruͤnge mußte sie machen, und die Dornen rissen ihr die Kleider vom Leibe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Göttinger Digitalisierungszentrum: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-06-15T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/370
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/370>, abgerufen am 22.11.2024.