Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1843.nach ihrer Eigenthümlichkeit, jeder Mund anders erzählt. Aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen ähnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getränkten Entfalten, und einer absichtlichen, alles nach Willkür zusammenknüpfenden und auch wohl leimenden Umänderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen können. Die einzige Richtschnur wäre dann die von seiner Bildung abhängende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, während bei jenem natürlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besondern Gelüsten vorzudringen nicht erlaubt. Räumt man den Überlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt giebt man zu daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn wo lebt sie wirklich als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kühlt und erfrischt, oder wärmt und stärkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche ihre Einfachheit, Unschuld und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt sie aus dem Kreiße, welchem sie angehören, und nach ihrer Eigenthümlichkeit, jeder Mund anders erzählt. Aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen ähnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getränkten Entfalten, und einer absichtlichen, alles nach Willkür zusammenknüpfenden und auch wohl leimenden Umänderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen können. Die einzige Richtschnur wäre dann die von seiner Bildung abhängende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, während bei jenem natürlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besondern Gelüsten vorzudringen nicht erlaubt. Räumt man den Überlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt giebt man zu daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn wo lebt sie wirklich als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kühlt und erfrischt, oder wärmt und stärkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche ihre Einfachheit, Unschuld und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt sie aus dem Kreiße, welchem sie angehören, und <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0028" n="XXIV"/> nach ihrer Eigenthümlichkeit, jeder Mund anders erzählt. Aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen ähnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getränkten Entfalten, und einer absichtlichen, alles nach Willkür zusammenknüpfenden und auch wohl leimenden Umänderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen können. Die einzige Richtschnur wäre dann die von seiner Bildung abhängende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, während bei jenem natürlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besondern Gelüsten vorzudringen nicht erlaubt. Räumt man den Überlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt giebt man zu daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn wo lebt sie wirklich als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kühlt und erfrischt, oder wärmt und stärkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche ihre Einfachheit, Unschuld und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt sie aus dem Kreiße, welchem sie angehören, und </p> </div> </front> </text> </TEI> [XXIV/0028]
nach ihrer Eigenthümlichkeit, jeder Mund anders erzählt. Aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen ähnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getränkten Entfalten, und einer absichtlichen, alles nach Willkür zusammenknüpfenden und auch wohl leimenden Umänderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen können. Die einzige Richtschnur wäre dann die von seiner Bildung abhängende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, während bei jenem natürlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besondern Gelüsten vorzudringen nicht erlaubt. Räumt man den Überlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt giebt man zu daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn wo lebt sie wirklich als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kühlt und erfrischt, oder wärmt und stärkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche ihre Einfachheit, Unschuld und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt sie aus dem Kreiße, welchem sie angehören, und
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