Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Herde über die Brücke und sah unten im Sande ein schneeweißes Knöchlein liegen und dachte das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er herab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück daraus für sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knöchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen 'Ach, du liebes Hirtelein, du bläst auf meinem Knöchelein. mein Bruder hat mich erschlagen, unter der Brücke begraben, um das wilde Schwein, für des Königs Töchterlein.' 'Was für ein wunderliches Hörnchen,' sagte der Hirt, 'das von selber singt, das muß ich dem Herrn König bringen.' Als er damit vor den König kam, fieng das Hörnchen abermals an sein Liedchen zu singen. Der König verstand es wohl, und ließ die Erde unter der Brücke aufgraben, da kam das ganze Gerippe des Erschlagenen zum Vorschein. Der böse Bruder konnte die That nicht läugnen, ward in einen Sack genäht und lebendig ersäuft, die Gebeine des Gemordeten aber wurden auf den Kirchhof in ein schönes Grab zur Ruhe gelegt. Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Herde über die Brücke und sah unten im Sande ein schneeweißes Knöchlein liegen und dachte das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er herab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück daraus für sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knöchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen ‘Ach, du liebes Hirtelein, du bläst auf meinem Knöchelein. mein Bruder hat mich erschlagen, unter der Brücke begraben, um das wilde Schwein, für des Königs Töchterlein.’ ‘Was für ein wunderliches Hörnchen,’ sagte der Hirt, ‘das von selber singt, das muß ich dem Herrn König bringen.’ Als er damit vor den König kam, fieng das Hörnchen abermals an sein Liedchen zu singen. Der König verstand es wohl, und ließ die Erde unter der Brücke aufgraben, da kam das ganze Gerippe des Erschlagenen zum Vorschein. Der böse Bruder konnte die That nicht läugnen, ward in einen Sack genäht und lebendig ersäuft, die Gebeine des Gemordeten aber wurden auf den Kirchhof in ein schönes Grab zur Ruhe gelegt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0256" n="174"/> <p> Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Herde über die Brücke und sah unten im Sande ein schneeweißes Knöchlein liegen und dachte das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er herab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück daraus für sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knöchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen</p><lb/> <lg type="poem"> <l>‘Ach, du liebes Hirtelein,</l><lb/> <l>du bläst auf meinem Knöchelein.</l><lb/> <l>mein Bruder hat mich erschlagen,</l><lb/> <l>unter der Brücke begraben,</l><lb/> <l>um das wilde Schwein,</l><lb/> <l>für des Königs Töchterlein.’</l><lb/> </lg> <p>‘Was für ein wunderliches Hörnchen,’ sagte der Hirt, ‘das von selber singt, das muß ich dem Herrn König bringen.’ Als er damit vor den König kam, fieng das Hörnchen abermals an sein Liedchen zu singen. Der König verstand es wohl, und ließ die Erde unter der Brücke aufgraben, da kam das ganze Gerippe des Erschlagenen zum Vorschein. Der böse Bruder konnte die That nicht läugnen, ward in einen Sack genäht und lebendig ersäuft, die Gebeine des Gemordeten aber wurden auf den Kirchhof in ein schönes Grab zur Ruhe gelegt.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </body> </text> </TEI> [174/0256]
Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Herde über die Brücke und sah unten im Sande ein schneeweißes Knöchlein liegen und dachte das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er herab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück daraus für sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knöchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen
‘Ach, du liebes Hirtelein,
du bläst auf meinem Knöchelein.
mein Bruder hat mich erschlagen,
unter der Brücke begraben,
um das wilde Schwein,
für des Königs Töchterlein.’
‘Was für ein wunderliches Hörnchen,’ sagte der Hirt, ‘das von selber singt, das muß ich dem Herrn König bringen.’ Als er damit vor den König kam, fieng das Hörnchen abermals an sein Liedchen zu singen. Der König verstand es wohl, und ließ die Erde unter der Brücke aufgraben, da kam das ganze Gerippe des Erschlagenen zum Vorschein. Der böse Bruder konnte die That nicht läugnen, ward in einen Sack genäht und lebendig ersäuft, die Gebeine des Gemordeten aber wurden auf den Kirchhof in ein schönes Grab zur Ruhe gelegt.
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