Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.

Bild:
<< vorherige Seite

So empfängt die Beherrscherin des ewigen Schnees, deren Athem eisig ist, Lebenswärme und Gefühl erst in der Umarmung eines Menschen, nach dessen Tod sie wieder zu dem Nordlicht zurück kehrt. Der große Tagsstern, wie die Sonne heißt, ist ein Mann, der Weib und Kinder hat: wenn er die Augen schließt, so wird es Nacht, wie die Luft stille steht, wenn die Winde sich dem nöthigen Schlaf überlassen. Die ersten Menschen waren sechs Jndianer, die am Meeresufer sitzend sich einmal neben einander fanden und dann ausgiengen Weiber zu suchen. Sie kommen zu einer bestimmten Zeit wieder zusammen, jeder bringt sein Weib und ein Kind mit, und erzählt wie er dazu gelangt ist; aus einer andern Quelle (vergl. Friedrich Majer Religiöse Gebräuche und Jdeen der Urvölker des nördlichen Amerika im mythologischen Taschenbuch vom Jahr 1811. S. 239. 240) war diese Überlieferung schon mit einigen Abweichungen bekannt. Hier nur einiges von den Schicksalen des ersten. Er klettert Tage lang an einem Sonnenstrahl hinauf, bis er zu dem großen Tagesstern gelangt, und wirbt um dessen schöne Tochter. Von der Mutter begünstigt, gewinnt er ihre Neigung, aber der König des Lichts verschmäht die Vermischung seines Geschlechts mit den Geschöpfen der Erde. Als die Folgen des heimlichen Verständnisses offenbar werden, wirft er beide zornig vom Himmel herab, doch die Mutter läßt sie unverletzt auf die Erde nieder fallen, wo sie ein glückliches Leben führen und ihre Nachkommen sich ausbreiten. Es ist das einzige von diesen Märchen, das im Gang der Ereignisse einige Ähnlichkeit mit andern, bei uns bekannten zeigt, wo ein kühner Jüngling sich in die Behausung des Teufels oder eines andern bösen Geistes begibt, um etwas von ihm zu erlangen: eine gutmüthige Alte fördert sein Vorhaben und läßt ihn glücklich entrinnen; doch das ist nur eine allgemeine, in natürlichen Verhältnissen begründete Übereinstimmung. Jch will

So empfängt die Beherrscherin des ewigen Schnees, deren Athem eisig ist, Lebenswärme und Gefühl erst in der Umarmung eines Menschen, nach dessen Tod sie wieder zu dem Nordlicht zurück kehrt. Der große Tagsstern, wie die Sonne heißt, ist ein Mann, der Weib und Kinder hat: wenn er die Augen schließt, so wird es Nacht, wie die Luft stille steht, wenn die Winde sich dem nöthigen Schlaf überlassen. Die ersten Menschen waren sechs Jndianer, die am Meeresufer sitzend sich einmal neben einander fanden und dann ausgiengen Weiber zu suchen. Sie kommen zu einer bestimmten Zeit wieder zusammen, jeder bringt sein Weib und ein Kind mit, und erzählt wie er dazu gelangt ist; aus einer andern Quelle (vergl. Friedrich Majer Religiöse Gebräuche und Jdeen der Urvölker des nördlichen Amerika im mythologischen Taschenbuch vom Jahr 1811. S. 239. 240) war diese Überlieferung schon mit einigen Abweichungen bekannt. Hier nur einiges von den Schicksalen des ersten. Er klettert Tage lang an einem Sonnenstrahl hinauf, bis er zu dem großen Tagesstern gelangt, und wirbt um dessen schöne Tochter. Von der Mutter begünstigt, gewinnt er ihre Neigung, aber der König des Lichts verschmäht die Vermischung seines Geschlechts mit den Geschöpfen der Erde. Als die Folgen des heimlichen Verständnisses offenbar werden, wirft er beide zornig vom Himmel herab, doch die Mutter läßt sie unverletzt auf die Erde nieder fallen, wo sie ein glückliches Leben führen und ihre Nachkommen sich ausbreiten. Es ist das einzige von diesen Märchen, das im Gang der Ereignisse einige Ähnlichkeit mit andern, bei uns bekannten zeigt, wo ein kühner Jüngling sich in die Behausung des Teufels oder eines andern bösen Geistes begibt, um etwas von ihm zu erlangen: eine gutmüthige Alte fördert sein Vorhaben und läßt ihn glücklich entrinnen; doch das ist nur eine allgemeine, in natürlichen Verhältnissen begründete Übereinstimmung. Jch will

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div type="preface">
        <p><pb facs="#f0037" n="XXXI"/>
So empfängt die Beherrscherin des ewigen Schnees, deren Athem eisig ist, Lebenswärme und Gefühl erst in der Umarmung eines Menschen, nach dessen Tod sie wieder zu dem Nordlicht zurück kehrt. Der große Tagsstern, wie die Sonne heißt, ist ein Mann, der Weib und Kinder hat: wenn er die Augen schließt, so wird es Nacht, wie die Luft stille steht, wenn die Winde sich dem nöthigen Schlaf überlassen. Die ersten Menschen waren sechs Jndianer, die am Meeresufer sitzend sich einmal neben einander fanden und dann ausgiengen Weiber zu suchen. Sie kommen zu einer bestimmten Zeit wieder zusammen, jeder bringt sein Weib und ein Kind mit, und erzählt wie er dazu gelangt ist; aus einer andern Quelle (vergl. Friedrich Majer Religiöse Gebräuche und Jdeen der Urvölker des nördlichen Amerika im mythologischen Taschenbuch vom Jahr 1811. S. 239. 240) war diese Überlieferung schon mit einigen Abweichungen bekannt. Hier nur einiges von den Schicksalen des ersten. Er klettert Tage lang an einem Sonnenstrahl hinauf, bis er zu dem großen Tagesstern gelangt, und wirbt um dessen schöne Tochter. Von der Mutter begünstigt, gewinnt er ihre Neigung, aber der König des Lichts verschmäht die Vermischung seines Geschlechts mit den Geschöpfen der Erde. Als die Folgen des heimlichen Verständnisses offenbar werden, wirft er beide zornig vom Himmel herab, doch die Mutter läßt sie unverletzt auf die Erde nieder fallen, wo sie ein glückliches Leben führen und ihre Nachkommen sich ausbreiten. Es ist das einzige von diesen Märchen, das im Gang der Ereignisse einige Ähnlichkeit mit andern, bei uns bekannten zeigt, wo ein kühner Jüngling sich in die Behausung des Teufels oder eines andern bösen Geistes begibt, um etwas von ihm zu erlangen: eine gutmüthige Alte fördert sein Vorhaben und läßt ihn glücklich entrinnen; doch das ist nur eine allgemeine, in natürlichen Verhältnissen begründete Übereinstimmung. Jch will
</p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[XXXI/0037] So empfängt die Beherrscherin des ewigen Schnees, deren Athem eisig ist, Lebenswärme und Gefühl erst in der Umarmung eines Menschen, nach dessen Tod sie wieder zu dem Nordlicht zurück kehrt. Der große Tagsstern, wie die Sonne heißt, ist ein Mann, der Weib und Kinder hat: wenn er die Augen schließt, so wird es Nacht, wie die Luft stille steht, wenn die Winde sich dem nöthigen Schlaf überlassen. Die ersten Menschen waren sechs Jndianer, die am Meeresufer sitzend sich einmal neben einander fanden und dann ausgiengen Weiber zu suchen. Sie kommen zu einer bestimmten Zeit wieder zusammen, jeder bringt sein Weib und ein Kind mit, und erzählt wie er dazu gelangt ist; aus einer andern Quelle (vergl. Friedrich Majer Religiöse Gebräuche und Jdeen der Urvölker des nördlichen Amerika im mythologischen Taschenbuch vom Jahr 1811. S. 239. 240) war diese Überlieferung schon mit einigen Abweichungen bekannt. Hier nur einiges von den Schicksalen des ersten. Er klettert Tage lang an einem Sonnenstrahl hinauf, bis er zu dem großen Tagesstern gelangt, und wirbt um dessen schöne Tochter. Von der Mutter begünstigt, gewinnt er ihre Neigung, aber der König des Lichts verschmäht die Vermischung seines Geschlechts mit den Geschöpfen der Erde. Als die Folgen des heimlichen Verständnisses offenbar werden, wirft er beide zornig vom Himmel herab, doch die Mutter läßt sie unverletzt auf die Erde nieder fallen, wo sie ein glückliches Leben führen und ihre Nachkommen sich ausbreiten. Es ist das einzige von diesen Märchen, das im Gang der Ereignisse einige Ähnlichkeit mit andern, bei uns bekannten zeigt, wo ein kühner Jüngling sich in die Behausung des Teufels oder eines andern bösen Geistes begibt, um etwas von ihm zu erlangen: eine gutmüthige Alte fördert sein Vorhaben und läßt ihn glücklich entrinnen; doch das ist nur eine allgemeine, in natürlichen Verhältnissen begründete Übereinstimmung. Jch will

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-03T14:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/37
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850, S. XXXI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/37>, abgerufen am 21.11.2024.