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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.

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aus der Tiefe holt. Als jene Harfe ins Meer gesunken ist, wird eine zweite verfertigt, bei deren Klang der Adler seine Jungen im Nest verläßt und auf die Töne horcht. Doch auch die Grenzen der Macht werden bezeichnet, vergeblich ist der Versuch einer aus Silber und Gold kunstreich gebildeten Frau Lebenswärme mitzutheilen oder Athem einzuhauchen: vergeblich will man die geraubten Gestirne, Sonne und Mond durch künstliche, aus edlem Metall geschmiedete ersetzen, die Nachbildung strahlt kein Licht aus. Das Höchste aber, was die Brüder schaffen, ist der dem Boden Fruchtbarkeit verleihende, alle Wünsche erfüllende Sampo, in dessen Besitz zu gelangen, von feindlicher Seite List und Gewalt angewendet wird. Zuletzt ins Meer geschleudert zerbricht er, so daß seine Schätze auf dem Grund liegen bleiben und nur einzelne, von den Wellen ausgeworfene Stücke wieder an den Tag kommen. Der Nibelungehort, dessen Werth auch mehr in den damit verbundenen wunderbaren Dingen als in dem angesammelten Gold beruht, darf wohl damit verglichen werden. Die Heldensage setzt staatlich geordnete Völker voraus, die um Unabhängigkeit oder um Oberherrschaft kämpfen, menschliche Helden treten auf, an denen manchmal noch der Widerschein höherer Abkunft haftet: hier Götter, die einander den Besitz übernatürlicher, wunderkräftiger Dinge streitig machen. Auch die drei Brüder sind göttliche Wesen, der älteste von ihnen, der Herr des Liedes (um mich eines Ausdrucks des Mittelalters zu bedienen), hat dreißig Jahre in dem Schoß der Mutter gelegen, ehe er das Licht der Welt erblickte: schon am zweiten Tag schmiedet er sich ein Pferd, das leicht ist wie ein Halm, auf dem er über das Meer weg reitet. Nirgend Rohheit oder Verwilderung, neben den Äußerungen eines ungezähmten Übermuths steht Sanftheit, zarte Empfindung und liebevolle Betrachtung der Natur, wie sie dem schön geschilderten Hirtenleben eigen ist. Die Darstellung ist durchaus

aus der Tiefe holt. Als jene Harfe ins Meer gesunken ist, wird eine zweite verfertigt, bei deren Klang der Adler seine Jungen im Nest verläßt und auf die Töne horcht. Doch auch die Grenzen der Macht werden bezeichnet, vergeblich ist der Versuch einer aus Silber und Gold kunstreich gebildeten Frau Lebenswärme mitzutheilen oder Athem einzuhauchen: vergeblich will man die geraubten Gestirne, Sonne und Mond durch künstliche, aus edlem Metall geschmiedete ersetzen, die Nachbildung strahlt kein Licht aus. Das Höchste aber, was die Brüder schaffen, ist der dem Boden Fruchtbarkeit verleihende, alle Wünsche erfüllende Sampo, in dessen Besitz zu gelangen, von feindlicher Seite List und Gewalt angewendet wird. Zuletzt ins Meer geschleudert zerbricht er, so daß seine Schätze auf dem Grund liegen bleiben und nur einzelne, von den Wellen ausgeworfene Stücke wieder an den Tag kommen. Der Nibelungehort, dessen Werth auch mehr in den damit verbundenen wunderbaren Dingen als in dem angesammelten Gold beruht, darf wohl damit verglichen werden. Die Heldensage setzt staatlich geordnete Völker voraus, die um Unabhängigkeit oder um Oberherrschaft kämpfen, menschliche Helden treten auf, an denen manchmal noch der Widerschein höherer Abkunft haftet: hier Götter, die einander den Besitz übernatürlicher, wunderkräftiger Dinge streitig machen. Auch die drei Brüder sind göttliche Wesen, der älteste von ihnen, der Herr des Liedes (um mich eines Ausdrucks des Mittelalters zu bedienen), hat dreißig Jahre in dem Schoß der Mutter gelegen, ehe er das Licht der Welt erblickte: schon am zweiten Tag schmiedet er sich ein Pferd, das leicht ist wie ein Halm, auf dem er über das Meer weg reitet. Nirgend Rohheit oder Verwilderung, neben den Äußerungen eines ungezähmten Übermuths steht Sanftheit, zarte Empfindung und liebevolle Betrachtung der Natur, wie sie dem schön geschilderten Hirtenleben eigen ist. Die Darstellung ist durchaus

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[XXXV/0041] aus der Tiefe holt. Als jene Harfe ins Meer gesunken ist, wird eine zweite verfertigt, bei deren Klang der Adler seine Jungen im Nest verläßt und auf die Töne horcht. Doch auch die Grenzen der Macht werden bezeichnet, vergeblich ist der Versuch einer aus Silber und Gold kunstreich gebildeten Frau Lebenswärme mitzutheilen oder Athem einzuhauchen: vergeblich will man die geraubten Gestirne, Sonne und Mond durch künstliche, aus edlem Metall geschmiedete ersetzen, die Nachbildung strahlt kein Licht aus. Das Höchste aber, was die Brüder schaffen, ist der dem Boden Fruchtbarkeit verleihende, alle Wünsche erfüllende Sampo, in dessen Besitz zu gelangen, von feindlicher Seite List und Gewalt angewendet wird. Zuletzt ins Meer geschleudert zerbricht er, so daß seine Schätze auf dem Grund liegen bleiben und nur einzelne, von den Wellen ausgeworfene Stücke wieder an den Tag kommen. Der Nibelungehort, dessen Werth auch mehr in den damit verbundenen wunderbaren Dingen als in dem angesammelten Gold beruht, darf wohl damit verglichen werden. Die Heldensage setzt staatlich geordnete Völker voraus, die um Unabhängigkeit oder um Oberherrschaft kämpfen, menschliche Helden treten auf, an denen manchmal noch der Widerschein höherer Abkunft haftet: hier Götter, die einander den Besitz übernatürlicher, wunderkräftiger Dinge streitig machen. Auch die drei Brüder sind göttliche Wesen, der älteste von ihnen, der Herr des Liedes (um mich eines Ausdrucks des Mittelalters zu bedienen), hat dreißig Jahre in dem Schoß der Mutter gelegen, ehe er das Licht der Welt erblickte: schon am zweiten Tag schmiedet er sich ein Pferd, das leicht ist wie ein Halm, auf dem er über das Meer weg reitet. Nirgend Rohheit oder Verwilderung, neben den Äußerungen eines ungezähmten Übermuths steht Sanftheit, zarte Empfindung und liebevolle Betrachtung der Natur, wie sie dem schön geschilderten Hirtenleben eigen ist. Die Darstellung ist durchaus

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850, S. XXXV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/41>, abgerufen am 21.11.2024.