Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850.Sie wird erst milder, wenn die Beobachtung einfacher Zustände in dem Leben des Hirten, des Jägers, des Ackerbauenden, und der Einfluß gereinigter Sitte hinzu tritt. Mit Verwunderung erblicken wir in der finnischen und nordamerikanischen Sage das Maßlose und Ungeheure unmittelbar neben Schilderungen des einfachsten, fast idyllischen Lebens. Oft unschön, manchmal nackt und roh erfüllt es die tibetische Sage, obgleich auch hier nicht ganz die Darstellung natürlicher Verhältnisse oder Äußerungen wahrhafter Empfindung fehlen. Jn dem Grad, in welchem menschliche und gemilderte Sitte sich entwickelt und die sinnliche Fülle der Dichtung wächst, weicht das Mythische zurück und beginnt sich mit dem Duft der Ferne zu überziehen, der die Deutlichkeit der Umrisse schwächt, aber die Anmuth der Dichtung erhöht, etwa wie die bildende Kunst von den scharf gezeichneten, hagern, sogar häßlichen aber bedeutungsvollen Gestalten zu der äußern Schönheit der Formen übergeht. Kommt der Glanz der Heldenzeit über ein Volk, und bewegen große Thaten die Gemüther, so erfolgt eine neue Umwandlung der Sage. Die Götter gesellt Homer zu den Menschen, deren Gestalt sie annehmen, und die Helden werden fast bis zu ihnen hinauf gerückt: in Mahabharata wird Nahuscha ein Mensch als König über die Götter wie über die Welt gesetzt und Gleichstellung beider in dem Krieg der Kuruinge und Panduinge ist noch größer als in der Jlias. Damajanti weiß den Nala von den Himmlischen, die sich zu der Brautwerbung mit ihm eingefunden haben, nicht zu unterscheiden. Ganga gebiert dem Könige Pratipa acht Kinder, ehe er erfährt daß sie eine Göttin ist. Der Einzelkampf, in dem sonst die Entscheidung lag und der genau bestimmten Gesetzen unterworfen war, breitet sich zur Völkerschlacht aus, wo alle an dem Ruhm des Sieges oder dem Untergang eines Heldengeschlechts Theil nehmen. Das Epos strebt nach geschichtlicher Wahrheit, Maß und Ordnung Sie wird erst milder, wenn die Beobachtung einfacher Zustände in dem Leben des Hirten, des Jägers, des Ackerbauenden, und der Einfluß gereinigter Sitte hinzu tritt. Mit Verwunderung erblicken wir in der finnischen und nordamerikanischen Sage das Maßlose und Ungeheure unmittelbar neben Schilderungen des einfachsten, fast idyllischen Lebens. Oft unschön, manchmal nackt und roh erfüllt es die tibetische Sage, obgleich auch hier nicht ganz die Darstellung natürlicher Verhältnisse oder Äußerungen wahrhafter Empfindung fehlen. Jn dem Grad, in welchem menschliche und gemilderte Sitte sich entwickelt und die sinnliche Fülle der Dichtung wächst, weicht das Mythische zurück und beginnt sich mit dem Duft der Ferne zu überziehen, der die Deutlichkeit der Umrisse schwächt, aber die Anmuth der Dichtung erhöht, etwa wie die bildende Kunst von den scharf gezeichneten, hagern, sogar häßlichen aber bedeutungsvollen Gestalten zu der äußern Schönheit der Formen übergeht. Kommt der Glanz der Heldenzeit über ein Volk, und bewegen große Thaten die Gemüther, so erfolgt eine neue Umwandlung der Sage. Die Götter gesellt Homer zu den Menschen, deren Gestalt sie annehmen, und die Helden werden fast bis zu ihnen hinauf gerückt: in Mahabharata wird Nahuscha ein Mensch als König über die Götter wie über die Welt gesetzt und Gleichstellung beider in dem Krieg der Kuruinge und Panduinge ist noch größer als in der Jlias. Damajanti weiß den Nala von den Himmlischen, die sich zu der Brautwerbung mit ihm eingefunden haben, nicht zu unterscheiden. Ganga gebiert dem Könige Pratipa acht Kinder, ehe er erfährt daß sie eine Göttin ist. Der Einzelkampf, in dem sonst die Entscheidung lag und der genau bestimmten Gesetzen unterworfen war, breitet sich zur Völkerschlacht aus, wo alle an dem Ruhm des Sieges oder dem Untergang eines Heldengeschlechts Theil nehmen. Das Epos strebt nach geschichtlicher Wahrheit, Maß und Ordnung <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0074" n="LXVIII"/> Sie wird erst milder, wenn die Beobachtung einfacher Zustände in dem Leben des Hirten, des Jägers, des Ackerbauenden, und der Einfluß gereinigter Sitte hinzu tritt. Mit Verwunderung erblicken wir in der finnischen und nordamerikanischen Sage das Maßlose und Ungeheure unmittelbar neben Schilderungen des einfachsten, fast idyllischen Lebens. Oft unschön, manchmal nackt und roh erfüllt es die tibetische Sage, obgleich auch hier nicht ganz die Darstellung natürlicher Verhältnisse oder Äußerungen wahrhafter Empfindung fehlen. Jn dem Grad, in welchem menschliche und gemilderte Sitte sich entwickelt und die sinnliche Fülle der Dichtung wächst, weicht das Mythische zurück und beginnt sich mit dem Duft der Ferne zu überziehen, der die Deutlichkeit der Umrisse schwächt, aber die Anmuth der Dichtung erhöht, etwa wie die bildende Kunst von den scharf gezeichneten, hagern, sogar häßlichen aber bedeutungsvollen Gestalten zu der äußern Schönheit der Formen übergeht. Kommt der Glanz der Heldenzeit über ein Volk, und bewegen große Thaten die Gemüther, so erfolgt eine neue Umwandlung der Sage. Die Götter gesellt Homer zu den Menschen, deren Gestalt sie annehmen, und die Helden werden fast bis zu ihnen hinauf gerückt: in Mahabharata wird Nahuscha ein Mensch als König über die Götter wie über die Welt gesetzt und Gleichstellung beider in dem Krieg der Kuruinge und Panduinge ist noch größer als in der Jlias. Damajanti weiß den Nala von den Himmlischen, die sich zu der Brautwerbung mit ihm eingefunden haben, nicht zu unterscheiden. Ganga gebiert dem Könige Pratipa acht Kinder, ehe er erfährt daß sie eine Göttin ist. Der Einzelkampf, in dem sonst die Entscheidung lag und der genau bestimmten Gesetzen unterworfen war, breitet sich zur Völkerschlacht aus, wo alle an dem Ruhm des Sieges oder dem Untergang eines Heldengeschlechts Theil nehmen. Das Epos strebt nach geschichtlicher Wahrheit, Maß und Ordnung </p> </div> </front> </text> </TEI> [LXVIII/0074]
Sie wird erst milder, wenn die Beobachtung einfacher Zustände in dem Leben des Hirten, des Jägers, des Ackerbauenden, und der Einfluß gereinigter Sitte hinzu tritt. Mit Verwunderung erblicken wir in der finnischen und nordamerikanischen Sage das Maßlose und Ungeheure unmittelbar neben Schilderungen des einfachsten, fast idyllischen Lebens. Oft unschön, manchmal nackt und roh erfüllt es die tibetische Sage, obgleich auch hier nicht ganz die Darstellung natürlicher Verhältnisse oder Äußerungen wahrhafter Empfindung fehlen. Jn dem Grad, in welchem menschliche und gemilderte Sitte sich entwickelt und die sinnliche Fülle der Dichtung wächst, weicht das Mythische zurück und beginnt sich mit dem Duft der Ferne zu überziehen, der die Deutlichkeit der Umrisse schwächt, aber die Anmuth der Dichtung erhöht, etwa wie die bildende Kunst von den scharf gezeichneten, hagern, sogar häßlichen aber bedeutungsvollen Gestalten zu der äußern Schönheit der Formen übergeht. Kommt der Glanz der Heldenzeit über ein Volk, und bewegen große Thaten die Gemüther, so erfolgt eine neue Umwandlung der Sage. Die Götter gesellt Homer zu den Menschen, deren Gestalt sie annehmen, und die Helden werden fast bis zu ihnen hinauf gerückt: in Mahabharata wird Nahuscha ein Mensch als König über die Götter wie über die Welt gesetzt und Gleichstellung beider in dem Krieg der Kuruinge und Panduinge ist noch größer als in der Jlias. Damajanti weiß den Nala von den Himmlischen, die sich zu der Brautwerbung mit ihm eingefunden haben, nicht zu unterscheiden. Ganga gebiert dem Könige Pratipa acht Kinder, ehe er erfährt daß sie eine Göttin ist. Der Einzelkampf, in dem sonst die Entscheidung lag und der genau bestimmten Gesetzen unterworfen war, breitet sich zur Völkerschlacht aus, wo alle an dem Ruhm des Sieges oder dem Untergang eines Heldengeschlechts Theil nehmen. Das Epos strebt nach geschichtlicher Wahrheit, Maß und Ordnung
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Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1850, S. LXVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1850/74>, abgerufen am 16.07.2024. |